10.12.2012

Die Pulverisierung des “Kostendeckels” bei Stuttgart 21: Ende mit Schrecken oder Schrecken ohne Ende?

Der betriebswirtschaftliche Nutzen von Stuttgart 21 ist perdu. Dies lässt dem Aufsichtsrat der Deutschen Bahn vor einer Sitzung am kommenden Mittwoch keine Ruhe. Steht das umstrittene Projekt vor seinem Ende?


Volker Kefer, Vorstandsmitglied der Deutschen Bahn AG, bei einer Ingenieurskonferenz zum Bahnprojekt Stuttgart–Ulm (Stuttgart 21 und Neubaustrecke Wendlingen–Ulm) in Berlin.

Pünktlich zur Adventszeit gab es in den letzten Wochen für alle direkt oder indirekt am Bahn- und Immobilienprojekt Stuttgart 21 Beteiligten „neue“ Hiobsbotschaften: Mehrkosten in Höhe von bis 1,5 bis zu 1,8 Milliarden Euro wurden von offizieller Seite, d.h. vom Projektbetreiber Deutsche Bahn, bestätigt. Dies ist eine Kostensteigerung - noch vor dem wirklichen Baubeginn - von 35-40% im Vergleich zum "Kostendeckel" von 4,5 Mrd. Angeblich neu und unerwartet waren diese Hiobsbotschaften jedenfalls für all jene, die an jene Kostenobergrenze von 4,5 Mrd. geglaubt oder diese, in vollem Wissen, dass sie unrealistisch war, zur Durchsetzung und Legitimation des Projekts propagiert hatten. Bahnchef Grube hatte vor gut einem Jahr, im November 2011, eine Woche vor der Volksabstimmung, diesen Kostendeckel als „Sollbruchstelle“ bezeichnet. Dieser Kostendeckel ist nun Makulatur, der Bruch der Sollbruchstelle offiziell bestätigt.

Der volkswirtschaftliche Nutzen des Projekts wurde aufgrund des hohen Anteils, den die Volkswirtschaft in Form von Steuergeldern an der Finanzierung des Projekts tragen soll, schon immer von vielen bezweifelt. Nun wäre auch der betriebswirtschaftliche Nutzen für die DB, den sie bei Kosten bis zu 4,725 Milliarden noch gegeben sah, perdu. Damit treten nun neben die von der Projektgegnerseite vorgebrachten nicht primär ökonomischen Kritikpunkte wie etwa geologische und ökologische Risiken (die man als mehr oder minder schwer einschätzen kann, Stichworte Gipskeuper, Grundwasser), sowie architektonisch und stadtplanerischen Argumente (über die man auch geteilter Meinung sein kann, Teilzerstörung des Kulturdenkmals Bonatzbau, Durchbrechung der durchgängigen innerstädtischen Grünanlage durch den Tiefbahnhof an Stelle des (ehemaligen) Mittleren Schlossgartens), die „harten“ ökonomischen Fakten und Kosten-Nutzen-Rechnungen in die Abwägung um Fortführung oder Abbruch des Projekts. Deren negatives Resultat scheinen nun auch die Manager und Funktionäre der Projektbetreiber zu erkennen, denen es nur um die Bilanzen solcher betriebswirtschaftlicher Rechnungen geht. Ein Mitglied des Aufsichtsrats der Bahn äußerte sich so drastisch, wie sich von Befürworterseite bisher noch niemand geäußert hat: S 21 sei „ein Fass ohne Boden“. Wenn man dieses Zitat richtig interpretiert, steht nun die Fortführung des Projekts so stark in Frage wie bisher noch nie zuvor.

Der Stuhl von Volker Kefer wackelt nun gewaltig. Der Technikvorstand der Deutschen Bahn, der, immer (jedenfalls nach außen hin) gut gelaunt, wie ein Honigkuchenpferd grinsend, das Projekt in den Schlichtungsrunden im Herbst 2011, als Speerspitze der Befürworter, gegen alle Kritik verteidigt hatte und alle von dem Münchner Verkehrsplanungsbüro Vieregg und Rösler prognostizierten Kostensteigerungen, die nun offiziell eingetreten sind, als Spinnerei abgetan hatte, könnte am Mittwoch als Sündenbock pars pro toto für alle für die Fehlplanung und -kalkulation der DB Verantwortlichen bestraft werden, indem er entlassen oder zum Rücktritt gezwungen wird.




07.11.2012

Regression rejected: The re-election of Barack Obama. Also the end of the “WASP” hegemony?

At around 11 pm Eastern Time on election night, Tuesday, November 6, 2012, it became clear that Barack Hussein Obama, of Chicago, Illinois, the son of a Kenyan father and an American mother, would not be a one-term president. This is not quite as historic as his election into office four years ago as the first non-white President of the United States, just about forty years after the legal emancipation of African-Americans. But his re-election seems to signal the beginning of the end of a "WASP" (White Anglo-Saxon Protestant) hegemony of the American electorate and in U.S. society (although Romney is a Mormon, not a Protestant, but many of his voters are).



President Barack Obama on Election Night, November 6, 2012.

It is also a rejection of the reactionary and regressive positions of the Tea Party, that wanted to take the country and its society back to a past long overcome, decades ago. This is not only due to the demographic development towards an increasingly non-“White-Anglo-Saxon Protestant” America (about 30% of the American people is now either African American, Asian American or Hispanic), but also due to the partly racist anti-minority and -immigration and cynical anti-poor social Darwinist rhetoric and ideology of the Republicans. It was this ideology which caused their (self-inflicted) defeat. The radicalization of the Republican party 2009/10 was a backlash of the defeat in 2008, when they felt that the more moderate wing that John McCain had represented, lost. This radicalization was not appreciated by the majority of Americans, at least not on the level of having a radical in the White House (they did vote a Republican majority into the House in the mid-term elections of 2010). It turned out that the above analysis of 2008 was wrong; you could say in hindsight, simply put, that it was the Vice Presidential candidate, Tea Party icon, Governor Sarah Palin, not so much Senator McCain, that lost the 2008 election, and it is the Tea Party, that lost this 2012 election (from a Republican perspective). Of course, it was also the heritage of the Bush years and a youthful and charismatic Democrat contender that made it hard for McCain/Palin 2008 as, to a lesser extent, for Romney/Ryan in 2012 (as a Republican commentator on CNN put it last night: “Obama is (still) seen as the 'cool guy'”, as against the 'uncool' Romney). But the nascent Tea Party indirectly helped Obama into office four years ago; it indirectly helped him to get re-elected now by putting forward its positions as the mainstream positions of the Republican party and its candidate (although Governor Mitt Romney did become more moderate towards the end of his campaign).


The majority of Americans were not willing to go for market fundamentalism economically (deregulate Wall Street even further), extremist conservatism (anti-Abortion) and libertarianism (for small government) socially and “fiscal darwinism” (further tax reductions for the rich), not in 2008 (after eight years of Bush) again, and not now.



14.10.2012

Ein Signal gegen die Spaltung Europas. Zur Vergabe des Friedensnobelpreises an die Europäische Union. Eine Verteidigung

Die Vergabe des Friedensnobelpreises 2012 an die Europäische Union mitten in der Euro- und Finanzkrise ist nicht Bestätigung der Austeritätspolitik, sondern Warnung an deren Befürworter.



Die Flagge der EU (vom Europarat bereits 1955 als dessen Symbol eingeführt und 1986 von der Europäischen Gemeinschaft (seit 1993 EU) übernommen). Die zwölf Sterne stehen nicht für die Anzahl der Mitgliedsstaaten, sondern für "
Vollkommenheit, Vollständigkeit und Einheit"


Auf den ersten Blick etwas überraschend, für manche sogar "empörend", war die Vergabe des diesjährigen Friedensnobelpreises an die Europäische Union als Institution. Steht sie nicht derzeit so stark in der Kritik wie noch nie in ihrer etwa sechzigjährigen Geschichte? Wird sie nicht von zahlreichen Bürgern und auch mehr und mehr Politikern, von links wie rechts, als undemokratisch und technokratisch verschrien? Sehen viele sie nicht als eine Art neue, schleichende Diktatur, die den Nationalstaaten mehr und mehr Souveränität entzieht und die Bürger entmündigt? Scharfe Kritik äußerte z.B. Nigel Farage, der Führer der britischen europafeindlichen UKIP-Partei an der Entscheidung: “Man muss nur seine Augen öffnen um zu sehen, wie Gewalt und Aufstand in der EU zunehmen – ausgelöst durch den Euro.”

Damit hat er leider recht, genau so wie sich die EU-Politiker die anderen obigen kritischen Fragen zu Recht gefallen lassen müssen oder stellen müssen. Farages konkrete Kritik geht im Kern aber an der Sache vorbei, wenn er sie nur am Euro aufhängt. Es ist ja nicht der Euro, der von dem Osloer Kommittee ausgezeichnet wurde, d.h. diese in den 1990er Jahren fehlerhaft und voreilig konstruierte Währungsunion, die auf falschen Prämissen basierend und ohne zuvor die notwendige politische und fiskalische Union durchzusetzen, durchgezogen wurde. Es ist die Europäische Union als Institution, als supranationale Organisation, die - allein durch ihre auf Kooperation und auf Interdependenz basierende Grundstruktur geopolitisch so stabilisierend auf ihre Mitgliedsstaaten in West-, und später auch Mittel- und Osteuropa wirkte wie kein ähnliches Konstrukt mehr seit dem Wiener Kongress 1815. Die dort zementierte Mächtekonstellation, so restaurativ und anti-demokratisch sie auch war (die bürgerlichen Revolutionen von 1848/49 wurden von den Monarchien niedergeschlagen), verhinderte, zumindest für fast 100 Jahre, bis zum Ersten Weltkrieg, einen kontinentalen Krieg (der preußisch-österreichische Krieg 1866 war ja schon seinem Namen nach nur ein "Deutscher Krieg" und, ebenso wie der deutsch-französische von 1870/71, nur eine Sache von Monaten).
Ebenso verhält es sich bisher mit der Europäischen Union. Durch den Gemeinsamen Markt (Europäischen Binnenmarkt) begründeten die ersten beiden Generationen der Europapolitiker, v.a. der BRD und Frankreichs in den 1950er und 1960er Jahren eine wirtschaftliche Union, in der alle um ein Vielfaches mehr vom Wegfall der Zölle und anderer ökonomischer Barrieren profitierten, als wenn diese fortbestanden hätten geschweige denn, wenn sie über militärische Mittel, sprich Krieg versucht hätten, diese Vorteile zu erlangen (wie es zuvor, im imperialen Zeitalter ("Age of Empire" (Eric Hobsbawm)) gang und gäbe gewesen war). Dies übersehen die Kritiker, viele davon geflissentlich, aus einem reinen anti-europäischen Pawlow`schen Reflex heraus. Farage und seine Kumpanen in den anti-europäischen Parteien, die in fast ganz Europa (die große Ausnahme ist bisher Deutschland) wie Pilze aus dem Boden schießen, stützen ihre Haltung auf diese falsche Gleichsetzung. Der Euro ist nicht gleichbedeutend mit der Europäischen Union und er ist wenn überhaupt nur ein kleiner Teil der europäischen Idee.


12.04.2012

Die globalen Krisen von 1929 und 2008 und die (Macht-) Verhältnisse zwischen Staat und Markt: Für ein "Primat des Gesellschaftlichen" über den Markt

Die globalen Krisen von 1929 und 2008 und die (Macht-)Verhältnisse zwischen Staat und Markt: Für eine Rückkehr zum Primat der Politik und seine Transformation zum „Primat des Gesellschaftlichen“



Die Regierungschefs der "G20" beim Gipfel zu Finanzmärkten und Weltwirtschaft in Washington, D.C. am November 15, 2008.


"[W]ir können das Wesen jeglicher Erscheinung erst dann erkennen, wenn sie ihren Höhepunkt erreicht und überschritten hat.“ (R.M. MacIver, Vorwort, S. 11, in: Polanyi, Karl, The Great Transformation, Wien 1977)

Der ungarisch-österreichische Wirtschaftswissenschaftler und Soziologe Károly (Karl) Polányi (1886-1964) beschrieb in seinem heute als Standardwerk der Soziologie geltenden Werk „The Great Transformation“ (1944) die sich in den Industrieländern Europas und Nordamerikas im 19. Jahrhundert vollziehende Emanzipation bzw. Verselbständigung der Ökonomie gegenüber dem Staat, am historischen Beispiel des industrialisierten England; sein Werk entstand unter dem Eindruck der der Weltwirtschaftskrise von 1929, die sich fünfzehn Jahre zuvor ereignet hatte.



Karl Polányi (undatiert; 1920er)

Er sah die große Transformation, vom Merkantilismus zum liberalisierten, unregulierten Markt, als Ursache für den Zusammenbruch der „Welt des 19. Jahrhunderts“, der sich in dieser Krise vollzog: „Quell und Matrix dieses [liberal-modernen Welt-]Systems war der selbstregulierende Markt. (…) Der Schlüssel zum System des 19. Jahrhunderts waren die Gesetze, die die Marktwirtschaft beherrschten.“ Diesen selbstregulierende Markt betrachtet er jedoch als „eine krasse Utopie“, der „über längere Zeiträume nicht bestehen [kann], ohne die menschliche und natürliche Substanz der Gesellschaft zu vernichten; sie hätte den Menschen physisch zerstärt und seine Umwelt in eine Wildnis verwandelt.“ (Great Transformation, S. 19f.).

Analog zum Marx'schen Begriff des „Warenfetisch“ (Marx, „Das Kapital“, hier: Marx-Engels-Werke 23, Berlin 1962, S. 86) sieht Polányi die „Warenfiktion“ (“fictitious commodities“) als Grundlage der Transformation des gesellschaftlichen Charakters, nicht nur in seiner ökonomisch-materialistischen, sondern auch seiner sozio-kulturellen Dimension. Die Kommodifikation („Verwandlung aller Dinge in Waren“, Immanuel Wallerstein, „Historischer Kapitalismus“) von Arbeit, Boden und Geld ist „völlig fiktiv“ (108); dieser Fiktion (und somit den Gesetzen des Marktes) wurde die „Substanz der Gesellschaft“ untergeordnet. „Arbeit ist „bloß eine andere Bezeichnung für eine menschliche Tätigkeit, die zum Leben an sich gehört, das seinerseits nicht zum Zwecke des Verkaufs (…) hervorgebracht wird (…); Boden (…) ist eine Bezeichnung für Natur, die nicht vom Menschen produziert wird; und (…) Geld, schließlich, ist nur ein Symbol der Kaufkraft, das in der Regel überhaupt nicht produziert, sondern durch den Mechanismus des Bankwesens oder der Staatsfinanzen in die Welt gesetzt wird.“ (107f.)

Der US-Historiker Donald Worster betonte die "Befreiung" des selbstbestimmten Marktteilnehmers von jeglicher (staatlicher oder anderer) Intervention und die Reduktion des Verhältnisses des kommodifizierten Individuums zu seiner Umgebung und Natur auf rein utilitaristisch-instrumentalistische Funktionen: "Die Kapitalisten (...) lösten den Einzelnen aus allen traditionellen Fesseln der Hierarchie und der Gemeinschaft (...) Die Menschen müssen nun (...) beständig überlegen, wie man zu Geld kommt. Sie müssen ihre ganze Umgebung – das Land, die natürlichen Ressourcen, auch ihre eigene Arbeitskraft – als Waren betrachten, aus denen man auf dem Markt Profite ziehen kann. Sie müssen das Recht einfordern, ohne Beschränkung und Regelung von außen Güter zu produzieren, zu verkaufen und einzukaufen. (...) Als dann die Begehrlichkeit immer stärker, die Märkte immer größer und umfassender wurden, reduzierten sich auch die Bande zwischen den Menschen und der Natur bis zum nackten Instrumentalismus." (Worster, Donald (Hrsg.), The Ends of the Earth, Cambridge 1988, S. 11f., zit. nach: Meadows, Donella/Meadows, Dennis/Randers, Jørgen, Die neuen Grenzen des Wachstums, Stuttgart 1992, S. 264).

Polányi beschreibt, wie dem „selbstregulierenden Markt“ in den etwa hundert Jahren zwischen dem Wiener Kongress von 1815 (nach dem das „friedliche Geschäftsleben zum Allgemeininteresse [wurde]“ (24)) und der Wirtschaftskrise der 1920er Jahre das Primat über den Staat und dessen Politik eingeräumt wurde. Waren Märkte vor der Transformation „bloße Begleiterscheinungen“ und war das „Wirtschaftssystem im Gesellschaftssystem integriert“ (102) und entwickelten sich im Merkantilismus „Regelung und Märkte (…) in der Praxis gemeinsam“, so wird in der neuen „market society“ (d.h. der vermarkteten Gesellschaft, einer unregulierten Marktwirtschaft) der „Markt zur einzigen wirksamen Kraft“ (103). Der „Wechsel von geregelten zu selbstregulierenden Märkten stellt eine völlige Umwandlung der Gesellschaftsstruktur dar“ (105).



12.02.2012

"In Europa wird wieder deutsch gesprochen". Austerität und Fiskalradikalismus ohne Stimuli - ein unwirksames Mittel in der Krise

Angela Merkel fährt - ihr Hündchen Sarkozy, vom baldigen Machtverlust geplagt, im Schlepptau - in der Eurokrise einen strengen Austeritätskurs. Die "Mehrzahl der Deutschen" honoriert das und sieht die "deutschen Interessen" (d.h. möglichst viel Profit für die Wirtschaft bei möglichst wenig Einsatz) mit diesem Kurs gut vertreten.


Der französische Präsident Nicolas Sarkozy und die deutsche Kanzlerin Angela Merkel beim gemeinsamen Pressestatement auf der 45. Münchner Sicherheitskonferenz, 7. Februar 2009


Merkel mag vielleicht "deutsche" Interessen vertreten, aber die welcher Deutscher? Die der oberen Zehntausend, d.h. die der Manager der deutschen Wirtschaft und die Zocker der Hochfinanz. Selbst das mit der Wirtschaft ist zweifelhaft, denn was hilft es, den Ländern krasse Sparprogramme wie den jetzigen "Fiskalpakt" aufzudrücken
, die "unsre" deutschen Produkte kaufen sollen? Schon klar, dass dann bis Mitte 2012 eine Rezession vorhergesagt wird. Die Krise ist nicht überstanden (höchstens für die Deutsche Bank, die wieder Rekordgewinne, u.a. mit Spekulationen auf Lebensmittel und Finanzierung von Waffengeschäften gemacht hat und die Banken, die aus dem EFSF Geld für niedrige Zinsen bekommen, dass sie dann zu höheren Zinsen wieder an die Länder und private Investoren verleihen (!)), sondern springt sehr wahrscheinlich aufgrund der Austerität bald auf die Realwirtschaft über.


Ein Schuldenschnitt, v.a. der privaten Gläubiger und Banken, für Griechenland u.a. (kommt bisher nicht zustande) und EZB-"Marshallplan" für die PIIGS (Por, It, Irl, Gr, Sp) u. evtl. andere (wird bisher von den Sparfaschisten rundweg abgelehnt) wäre wahrscheinlich sinnvoller (nachfrageorientierter Ansatz), ebenso wie Eurobonds, damit "die Märkte" nicht weiter auf die Staatspleite von Staaten spekulieren können. Das Geld sollte dann von der EZB direkt in die Staaten fließen, nicht über den Umweg der Banken, die sich davon nur auf Kosten der Steuerzahler gesund sanieren. Die Einnahmeseite der Staatshaushalte muss endlich viel stärker beachtet werden, d.h. die Reichen (in Griechenland, aber auch weltweit), müssen (höhere) Steuern zahlen, ihr Steuersatz ist in den letzten Jahren um ein Viertel (in den USA mehr) zurückgegangen oder sie haben gar keine Steuern bezahlt/diese hinterzogen (Griechenland, Italien, aber auch BRD). Die Vermögenden müssen stärker an der Lösung des Dilemmas beteiligt werden, einige (z.B. Warren Buffet in den USA) haben sich auch bereit erklärt, mehr Steuern zu zahlen bzw. sagen offen, dass sie zu wenig zahlen (Mitt Romney dagegen findet es wahrscheinlich richtig, dass er als Multimillionär nur 15% (!) auf sein größtenteils mit Hegde-Fonds "verdientes" Einkommen zahlt, der Durchschnitts-Amerikaner zahlt ca. 30%; Obama attackierte ihn daher in seiner "state of the union address" indirekt zurecht).

Zugleich müssen die Finanzmärkte stärker reguliert werden, hier ist so gut wie nichts passiert, obwohl es seit drei Jahren mantraartig von allen Parteien (vllt. außer der FDP) gefordert wird. Die Hörigkeit der Politik gegenüber den "Märkten" muss aufhören. Merkel hat seit 2008 immer nur widerwillig Maßnahmen eingeleitet, die die Staaten gegenüber den Märkten (zumindest teilweise) gestärkt haben (d.h. Garantien (Rettungsschirm)). Ihr war sogar die Wahl in NRW 2009 wichtiger als die Zukunft Griechenlands. Durch Ihr Zögern wurde die Lage schlimmer. Von daher fährt sie keinen Zickzackkurs, das stimmt, sie folgt immer den Interessen der Märkte bzw. sie "wird gefahren", lässt sich von ihnen treiben.

Langfristig muss das Finanzsystem reformiert werden, ein sinnvoller Schritt wäre z.B. ein Trennbankensystem, das Casino-Investmentbanken von Geschäftsbanken trennt und sie ihrem eigenen Schicksal überlässt (keine staatliche Haftung für diese Zockerbanken mehr). So könnte man sie pleite gehen lassen ohne Risiko für "normale" Privatkunden. Eine Finanztransaktionssteuer ist zwingend, um die Banken an den Kosten zu beteiligen und die Einnahmeseite zu stärken.


29.01.2012

Stuttgart 21 - eine Bestandsaufnahme: keine "schöpferische", sondern sinn- und planlose Zerstörung

"Schöpferische Zerstörung": diesen ursprünglich von Marx stammenden Begriff machte der österreichisch-amerikanische Ökonom Joseph Schumpeter (1883-1950) in seinem Werk "Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie" (1942) zu einem Schlagwort der Wirtschaftstheorie. "Schöpferische Zerstörung" beschreibt in der Schumpeterschen Theorie des Kapitalismus den Kern wirtschaftlicher Dynamik in der Entstehung von Neuem durch die Zerstörung des Alten, die Ablösung alter Strukturen durch neue, auf Innovationen basierenden und diese legitmierenden Strukturen.


Abriss des Südflügels des Bahnhofsgebäudes, Stuttgart Hbf, 2. Februar 2012

In der Postdemokratie (Colin Crouch) des 21. Jh. scheint "Legitimation von Zerstörung durch Innovation" nicht mehr zu gelten. Der Kapitalismus perpetuiert sich nun ohne gesamt-gesellschaftlichen Fortschritt. Beispiel Stuttgart 21: Hier wird Schumpeters Prinzip nur in seiner destruktiven Dynamik angewandt, das innovative Element fehlt: ein funktionierender, alter Eisenbahnknoten soll ohne Not durch einen bereits vor seiner Fertigstellung veralteten
(Bsp. keine Barriefreiheit in einer alternden Gesellschaft u.a.), allenfalls gleichwertigen, wahrscheinlich dysfunktionaleren, neuen abgelöst werden; das Kosten-Nutzen-Verhältnis ist negativ (jedenfalls für die Volkswirtschaft und den Steuerzahler/Bürger, nicht für die bald privatisierte Deutsche Bahn und ECE (s.u.)). Auch bei der praktischen Ausführung dieser Regression verfolgt der Projektbetreiber, die Deutsche Bahn, derzeit in ihrer Planung nur das Prinzip "sinn- und planlose Zerstörung".
Mit dem Südflügelabriss und der Vorbereitung der Fildertunnel-Bohrung wird versucht, Fakten zu schaffen, um nachher die Genehmigung mit Sachzwängen ("unumkehrbar") durchzudrücken. Diese Abrissmaßnahmen - ebenso wie die artenschutzrechtlich bedenklichen Baumfällungen - sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt weder notwendig noch zulässig (fehlende Planfeststellung (s.u.)). Durch die Zerstörung soll zudem eine Machtdemonstration erfolgen, ohne dass jedoch die Macht durch (planerische) Kompetenz und Sachverstand legitimiert wäre. Sie wird hier in ihrer reinsten, unbegründetsten Form ausgeübt, als "die Fähigkeit, Ziele zu erreichen, ohne sich äußeren Ansprüchen unterwerfen zu müssen" (Quelle: "Macht" bei "Wikipedia").Die von den Skeptikern/Projektgegnern prognostizierten, aber vom S-21-Kartell im Abstimmungswahlkampf verschwiegenen Planungspannen und -probleme sind eingetreten:



18.01.2012

„Mainstream-Neinsager“ oder berechtigterweise Zweifelnde? Zur Legitimität des Protests

Von New York bis Santiago de Chile, von Madrid bis Kairo, von Damaskus bis Bukarest und Athen bis Stuttgart - Berichte über mehr oder minder massive, gegen ganz verschiedene Entwicklungen gerichtete und in vielfältiger Form ausgeübte Proteste sind in den Medien seit etwa anderthalb bis zwei Jahren omnipräsent; betrachtet man die Ursachen, so sind diese ebenso vielschichtig und komplex.



28. 09. 2011, 12. Tag des "Occupy Wall Street"-Protests in New York City. „Niemand ist mehr Sklave, als der sich für frei hält, ohne es zu sein.“ (Goethe, Die Wahlverwandtschaften)


Es gibt wohl Schnittmengen zwischen Anonymous, attac, dem Arabischen Frühling, Occupy, Piratenpartei, S-21-Gegnern und anderen Protest- oder Reformbewegungen. Diese lassen sich meiner Meinung nach aber nicht - im positiven Sinne - als eine große, hehre Bewegung zusammenfassen. Ebenso wenig handelt es sich - im negativen Sinn - um eine tumbe Masse, die unreflektiert einer angeblich dem gesellschaftlichen mainstream folgenden „Dagegenkultur“ frönt, wie dies, überspitzt gesagt, ein Artikel in "brand eins" behauptet. Über eine Verlinkung in einem sozialen Netzwerk stieß ich auf diesen Artikel dieses Wirtschaftsmagazins, der, dem Thema der Ausgabe, „Schwerpunkt: Nein Sagen“, folgend, unter dem Titel „Was dagegen?“ diesen gegenwärtigen Proteste die Legitimation abspricht, da viele den Protesten aus "Gruppendruck", wie einem Herdentrieb folgend, in „blindem Gehorsam“ folgen würden:

http://www.brandeins.de/aktuelle-ausgabe/artikel/was-dagegen.html

Hierauf schrieb ich, mich auf eine auf Hannah Arend rekurrierende Stelle des Artikels beziehend, folgenden einen e-mail-„Leserbrief“ als Gegenrede (minimal verändert gegenüber dem Originaltext):

Sehr geehrte Damen und Herren,

in Bezug auf folgende Passage

"Die Protestkultur, die sich eine Hannah Arendt ersehnte, war eine, die den berechtigten Zweifel an die Stelle des blinden Gehorsams setzt. Es war eine Protestkultur von Menschen, die wissen wollten, Aufklärung verlangten und Entscheidungen treffen konnten. Es war der Protest mündiger Bürger, keine Mitmachkultur, die pauschal und ohne großes Nachfragen Dingen ihren moralischen Stempel aufdrückt und persönlichen Geschmack und Gruppendruck zur Wahrheit erklärt.


02.01.2012

Die "Affäre Wulff" wird zum "Fall Wulff": Der Bundespräsident und die Pressefreiheit


Wenn sich der Bericht der Süddeutschen Zeitung als richtig herausstellt, nach dem Christian Wulff bei Redakteuren der "BILD"-Zeitung, sowohl bei Chefredakteur Diekmann als auch bei Springer-Chef Döpfner, angerufen und Diekmann sogar mit einem Strafantrag gedroht haben soll, sollten sie über die Vorgänge um den Privatkredit berichten, hätte die Affäre um den Bundespräsidenten nun eine neue Ebene erreicht.



Christian Wulff (2007)

Es ginge dann nicht mehr um die persönliche Ebene, um an Korruption grenzende Verstrickungen, moralisch fragwürdige Verbindungen zwischen einem Unternehmer und einem Minister- bzw. Bundespräsidenten, sondern um Vorgänge, die man fast schon als "Staatsaffäre" bezeichnen könnte: Das Staatsoberhaupt, oberster Repräsentant eines Landes und damit auch dessen Verfassung verpflichtet, versucht, eines dieser zentralen verfassungsmäßigen Grundrechte, die Pressefreiheit (Art. 5 GG*), zu beschneiden, und droht dabei sogar, seine persönliche Macht dafür zu mißbrauchen.



01.01.2012

Zehn Jahre Euro. Überlegungen (Eine Umfrage der BamS zur EU-Mitgliedschaft und ein erwünschtes Resultat - Ergänzung)

Am heutigen Neujahrstag 2012 gibt es den Euro nun seit zehn Jahren als Zahlungsmittel (Buchgeld im war er zuvor schon seit 1999). Hierzu einige Überlegungen im Bezug auf die angeblich vorteilhaftere Rückkehr zur D-Mark bzw. ein Nachtrag zum Post mit dem Thema "Euro/EU" vom 12.12.11:


Das Euro-Symbol vor der Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main (2005)

Die Preise sind in den letzten zehn Jahren stabiler als zuvor. Die Teuerung bzw. Inflationsrate ist seit Euro-Einführung, also seit 2002, niedriger als zuvor, 1,6% im Vergleich zu 2,2% in den letzten 10 Jahren der DM (1991-2001)(Tagesschau, 01.01.12)

Dass die Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland auseinandergeht, liegt nicht am Euro, sondern an den im Vergleich zur Inflation niedrigeren Lohnsteigerungen der lohnabhängigen unteren und mittleren Einkommen.