22.01.2013

50 Jahre nach dem Élysée-Vertrag: Die Begründung der „deutsch-französischen Zusammenarbeit“ und ihre Bedeutung für die Zukunft Europas – Renationalisierung oder Kosmopolitismus?

Vor fünfzig Jahren, am 22. Januar 1963, unterzeichneten der Kanzler der BRD, Konrad Adenauer, und der Hausherr des Élysée-Palastes, der französische Präsident Charles de Gaulle, beide noch Kinder des 19. Jahrhunderts, den „deutsch-französischen Freundschaftsvertrag“, der heute im Allgemeinen nach seinem Unterzeichnungsort meist nur „Élysée-Vertrag“ genannt wird. Damit wurde die europäische Integration  auf eine weitere, im Gegensatz zu den Römischen Verträgen von 1957, eher informelle, nicht unmittelbar institutionell-formelle Basis gestellt. Deren Motor waren und wurden die beiden (jungen) Republiken für knapp das vorangegangene und die folgenden fünf Jahrzehnte. Berlin und Paris sollten sich angesichts der europäischen Krise jetzt darauf besinnen und nicht in national-chauvinistische Schneckenhäuser zurückziehen.


Briefmarke der Deutschen Bundespost zum zehnjährigen Jubiläum der Unterzeichnung des Elysée-Vertrages (1973)

Die Franzosen waren es, die unter de Gaulle und seinen Nachfolgern mehr als ihre östlichen, noch durch die Last der Kriegsschuld belasteten Nachbarn, in den ersten Jahrzehnten der europäischen Integration den Ton in und für jenen Integrationsprozess angaben. Allein schon ihre geopolitische Situation war damals eher prädestiniert dafür als die der Bundesrepublik. Diese lag für für zwei Generationen am östlichen Rand der Europäischen Gemeinschaft, ehe sich, innerhalb von wenigen Jahren, das relativ unvorhersehbare Ende des für vierzig Jahre die beiden deutschen Staaten und den Westen vom Osten trennenden Eisernen Vorhangs vollzog. Damit begann geopolitisch das Ende der französischen Hegemonie auf dem Kontinent. Am 3. Oktober 1990 trat mit dem Beitritt zur Bundesrepublik das ehemalige Territorium der DDR, am 1. Mai 2004 die anderen ehemaligen Ostblockstaaten dem europäischen Staatenbund bei. Spätestens mit dieser massiven Osterweiterung, die den Zuwachs der EU um etwa siebzig Millionen neue Bürger bedeutete, verschob sich das Gewicht nach Osten, zu Deutschland hin. Um den Preis der Aufgabe seiner starken D-Mark zugunsten des Euro hatte sich Deutschland erst seine Wiedervereinigung und danach seine geopolitische und wirtschaftspolitische Einflusserweiterung nach Osten hin erkauft. Trotz oder - ironischerweise, wie sich herausstellte – u.a. auch wegen der neuen europäischen Währung, die 1999 auf dem Papier und 2002 real eingeführt wurde, schwang sich Deutschland gegen Ende des vergangenen Jahrzehnts gar zum mit gehörigem Abstand wirtschaftlich stärksten Land, ja Hegemon, des Kontinents auf, während Frankreich zurückfiel. Der deutsch-französische Motor der europäischen Wirtschaft und Integration wurde in den vergangenen Jahren deshalb immer mehr zu einem rein deutschen.

In dieser gegenwärtigen Situation steht Europa, nicht nur, aber vor allem, wegen der Finanzkrise, die auch zu einer Krise für die europäische Währungsunion wurde, vor der Entscheidung, wie es sich und seine Zukunft gestaltet. Die bisherige deutsche Politik in der Eurokrise, der andere (nordische) Länder gefolgt sind und der sich die (südlichen) Länder nolens volens beugen müssen, hat in einigen Staaten zu einer Re-Nationalisierung erschreckenden Ausmaßes geführt: In Finnland, aber auch in Griechenland, dem Hauptbetroffenen der Austeritätspolitik, sind extreme anti-europäische Parteien erstarkt, in Ungarn sind gar Neo-Faschisten an der Macht. Statt einer europäischen Solidarisierung wird in den Geberländern wie Deutschland oder Finnland auf die „Südländer“ geschimpft; in den betroffenen ärmeren Ländern des Südens werden jene, v.a. die Deutschen, als diktatorisch empfunden. Animositäten zwischen Deutschland und (dem zum Glück nicht mehr sehr nationalistischen) post-gaullistischen Frankreich sind dagegen zum bisher nicht im selben Ausmaß vorgekommen. Dennoch sollte man in Berlin nicht zu offensichtlich hegemonial agieren, sondern, wie etwa zu Beginn des letzten Jahrzehnts, eher die Rolle eines primus inter pares einzunehmen.

Es fällt einem als Historiker als Analogie zur momentanen Situation das Kaisertum Österreich vor etwa 150 Jahren ein, das Mitte des 19. Jahrhunderts ethnisch und geopolitisch eine Art kleine EU in Südosteuropa vorwegnahm. Dort schuf man 1867, weil die Nationalitätenfrage im Vielvölkerstaat immer drängender wurde und ihn in eine Existenz- und Identitätskrise stürzte, die durchaus der heutigen europäischen glich, den auch explizit so genannten„Ausgleich“ der Zentralregierung in Wien mit dem zweitgrößten Reichsland, Ungarn; diesem wurde in Budapest eine Regierung zugestanden, zur Verwaltung der südöstlichen „Reichshälfte“, die Ungarn unterstellt wurde; der Kaiser in Wien wurde nun auch „König von Ungarn“ genannt („kaiserlich und königlich“, „k. u. k.“). Das Reich, das seine Existenz schon in und nach der Revolution 1848/49 mehr schlecht als recht und nur mit fremder (russisch-zaristischer) Hilfe hatte behaupten können, schaffte es dadurch, wenn auch nur teilweise und unvollkommen (in der ungarischen Reichshälfte gab es weiterhin Spannungen zwischen den aufmüpfigen Nationalitäten, etwa den Kroaten, und der Budapester Regierung), seine ethnische Pluralität und dennoch gleichzeitig seinen toleranten und kosmopolitischen Grundcharakter beizubehalten. Anders als im vier Jahre später gegründeten Deutschen Reich oder in Italien, die bereits fast vollkommen nationalisiert und sprachlich-kulturell und ethnisch homogen(isiert worden) waren, war Österreich-Ungarn ein ostmitteleuropäisches Vielvölkerreich, in dem ein friedliches und tolerantes Zusammenleben verschiedenster Sprachgruppen, Ethnien und Religionen (Deutsche, Ungarn oder Slawen, die entweder Katholiken, Calvinisten, Orthodoxe, Juden oder sogar Muslime waren) für lange Zeiträume problemlos möglich war; auch dadurch, dass dieses Habsburgerreich an der Peripherie zwischen West- und Osteuropa lag und damit wichtige Handelsrouten zwischen Deutschland und Italien (d.h. dem Mittelmeer) im Westen und Russland (und dem Schwarzen Meer) im Osten durch sein Territorium verliefen.





03.01.2013

Freiheit und ihre Grenzen – das staatliche Gewaltmonopol, die Fiskalklippe und die Polarisierung der amerikanischen politischen Kultur

In den Vereinigten Staaten ist - wohl primär zur Beruhigung der „Märkte“ - ein Kompromiss im US-Haushaltsstreit erreicht worden. Die politische Polarisierung besteht jedoch weiter. Die Debatten um den zweiten Verfassungszusatz und der Haushaltsstreit um Steuern und Ausgaben sind in der politischen Kultur der USA zwei Seiten derselben Medaille.


"Liberty. Preserve This Heritage". Plakat des Office for Emergency Management. War Production Board, 1942/43

In seinem Buch Leviathan von 1651 definierte der englische Philosoph Thomas Hobbes als Grundlage eines modernen Staatwesens das Prinzip der Sicherheit als über allen anderen Prinzipien stehende Voraussetzung für die Stabilität und Überlebensfähigkeit des modernen Staates. Daraus leitete sich neben dem mit dem Ende des Feudalismus und der Leibeigenschaft in der Neuzeit etablierten Monopol des Staates, Steuern zu erheben, das Gewaltmonopol des Staates ab. Um den prä-zivilisatorischen „Naturzustand“ (“state of nature“, personifiziert im Monster “Behemoth“) zu überwinden, in dem Hobbes die Menschen als primär egoistisch (quasi „darwinistisch vor Darwin“) ausgerichtet ansieht, sei eine übergeordnete Autorität notwendig, eben der „Leviathan“, der moderne Staat. Hobbes war der erste, der ein ganzes staatstheoretisches Werk allein dieser Problematik widmete. Drei Jahre zuvor, im Jahr 1648, war mit dem Westfälischen Frieden das erste moderne Staatensystem Europas geschaffen worden. England hatte gerade den blutigsten (Bürger-) Krieg seiner Geschichte, der europäische Kontinent den katastrophalen Dreißigjährigen Krieg hinter sich. Vor allem durch Mitteleuropa (die deutschen Territorien) waren, parallel zum Krieg und als Begleiterscheinung des „offiziellen“ Kriegsgeschehens, viele marodierende Horden jahrelang ungehindert plündernd und mordend gezogen. In den in Münster und Osnabrück unterschriebenen Verträgen wurde als Reaktion darauf das Gewaltmonopol des Staates als Grundpfeiler der internationalen Beziehungen verankert.

Titelbild des "Leviathan" von Thomas Hobbes (1651)

Etwa eineinhalb Jahrhunderte später wurde in zwei Revolutionen vor allem für ein Ideal gegen die herrschenden Monarchien gekämpft: Freiheit. Die Amerikanische Revolution von 1776 und die Französische Revolution von 1789 drehten sich primär um Fragen des steuerlichen Monopols und Machtmonopols des Staates und dessen Legitimation. In Nordamerika wehrten sich die von der englischen Krone seit 170 Jahren dort angesiedelten „Amerikaner“ gegen unrechtmäßige Besteuerung (“no taxation without representation“); sie forderten, im Parlament von Westminster, der Keimzelle und dem Monopolisten des modernen Haushaltsrechts, angemessen vertreten zu sein. Sie stellten aber generell das Haushaltsrecht bzw. Steuererhebungsmonopol des Staates nicht in Frage. In Frankreich war der Auslöser primär die sozio-ökonomische Ungleichheit zwischen Aristokratie und Klerus einerseits und dem „Dritten Stand“ andererseits; daher wurde dort der Freiheitsbegriff mit Forderungen nach mehr Gleichheit und Solidarität verknüpft (“liberté, égalité, fraternité“). Diese Ideale aber erreichten als erstrebenswerte Ziele in den Vereinigten Staaten nie dieselbe Stufe wie die Freiheit.


Der scheinbare Gegensatz zwischen dem Gewaltmonopol des Staates und persönlicher Freiheit wurde Teil der amerikanischen politischen Kultur und das Narrativ vom freien Mann, der an der westlichen „frontier“ im Kampf Mensch gegen Wildnis seines eigenen Glückes Schmied ist, zum nationalen Mythos. Skepsis Herrschaft und Autorität gegenüber wurde wichtiger Bestandteil der Identität der jungen Nation. Freiheit wurde zu einem Grundpfeiler der amerikanischen Verfassung von 1787; Verfassungszusätze (“amendments“) folgten in den nächsten Jahrzehnten. Das “2nd amendment“ ist dabei das bis heute auch außerhalb der USA bekannteste und umstrittenste. Sein kurzer Text lautet: A well regulated militia being necessary to the security of a free state, the right of the people to keep and bear arms shall not be infringed.“ Darin kommt die zum Gründungsmythos gehörende Herrschaftsskepsis zum Tragen. Die Bürger sollen das Recht darauf haben, (Schuss-)Waffen zu tragen, um sich notfalls gegen einen zu mächtig werdenden, tyrannischen Staat zur Wehr setzen zu können, ihr Eigentum oder ihr Leben zu schützen. Im Kern steht dies im Widerspruch zum staatlichen Gewaltmonopol, kann aber mit dem zu einer demokratischen Gesellschaft gehörenden Prinzip des erlaubten Tyrannenmords als politischem Mord legitimiert werden. Allerdings war damit nicht ein individualistisch-egoistischer, sondern einer im Rahmen einer Miliz, d.h. Bürgerwehr „wohl regulierter“ (s.o.) Gebrauch der Schusswaffen intendiert.