Vor fünfzig Jahren, am 22. Januar 1963, unterzeichneten der Kanzler der BRD, Konrad Adenauer, und der Hausherr des Élysée-Palastes, der französische Präsident Charles de Gaulle, beide noch Kinder des 19. Jahrhunderts, den „deutsch-französischen Freundschaftsvertrag“, der heute im Allgemeinen nach seinem Unterzeichnungsort meist nur „Élysée-Vertrag“ genannt wird. Damit wurde die europäische Integration auf eine weitere, im Gegensatz zu den Römischen Verträgen von 1957, eher informelle, nicht unmittelbar institutionell-formelle Basis gestellt. Deren Motor waren und wurden die beiden (jungen) Republiken für knapp das vorangegangene und die folgenden fünf Jahrzehnte. Berlin und Paris sollten sich angesichts der europäischen Krise jetzt darauf besinnen und nicht in national-chauvinistische Schneckenhäuser zurückziehen.
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Briefmarke der Deutschen Bundespost zum zehnjährigen Jubiläum der Unterzeichnung des Elysée-Vertrages (1973) |
Die Franzosen waren es, die unter de Gaulle und seinen Nachfolgern mehr als ihre östlichen, noch durch die Last der Kriegsschuld belasteten Nachbarn, in den ersten Jahrzehnten der europäischen Integration den Ton in und für jenen Integrationsprozess angaben. Allein schon ihre geopolitische Situation war damals eher prädestiniert dafür als die der Bundesrepublik. Diese lag für für zwei Generationen am östlichen Rand der Europäischen Gemeinschaft, ehe sich, innerhalb von wenigen Jahren, das relativ unvorhersehbare Ende des für vierzig Jahre die beiden deutschen Staaten und den Westen vom Osten trennenden Eisernen Vorhangs vollzog. Damit begann geopolitisch das Ende der französischen Hegemonie auf dem Kontinent. Am 3. Oktober 1990 trat mit dem Beitritt zur Bundesrepublik das ehemalige Territorium der DDR, am 1. Mai 2004 die anderen ehemaligen Ostblockstaaten dem europäischen Staatenbund bei. Spätestens mit dieser massiven Osterweiterung, die den Zuwachs der EU um etwa siebzig Millionen neue Bürger bedeutete, verschob sich das Gewicht nach Osten, zu Deutschland hin. Um den Preis der Aufgabe seiner starken D-Mark zugunsten des Euro hatte sich Deutschland erst seine Wiedervereinigung und danach seine geopolitische und wirtschaftspolitische Einflusserweiterung nach Osten hin erkauft. Trotz oder - ironischerweise, wie sich herausstellte – u.a. auch wegen der neuen europäischen Währung, die 1999 auf dem Papier und 2002 real eingeführt wurde, schwang sich Deutschland gegen Ende des vergangenen Jahrzehnts gar zum mit gehörigem Abstand wirtschaftlich stärksten Land, ja Hegemon, des Kontinents auf, während Frankreich zurückfiel. Der deutsch-französische Motor der europäischen Wirtschaft und Integration wurde in den vergangenen Jahren deshalb immer mehr zu einem rein deutschen.
In dieser gegenwärtigen Situation steht Europa, nicht nur, aber vor allem, wegen der Finanzkrise, die auch zu einer Krise für die europäische Währungsunion wurde, vor der Entscheidung, wie es sich und seine Zukunft gestaltet. Die bisherige deutsche Politik in der Eurokrise, der andere (nordische) Länder gefolgt sind und der sich die (südlichen) Länder nolens volens beugen müssen, hat in einigen Staaten zu einer Re-Nationalisierung erschreckenden Ausmaßes geführt: In Finnland, aber auch in Griechenland, dem Hauptbetroffenen der Austeritätspolitik, sind extreme anti-europäische Parteien erstarkt, in Ungarn sind gar Neo-Faschisten an der Macht. Statt einer europäischen Solidarisierung wird in den Geberländern wie Deutschland oder Finnland auf die „Südländer“ geschimpft; in den betroffenen ärmeren Ländern des Südens werden jene, v.a. die Deutschen, als diktatorisch empfunden. Animositäten zwischen Deutschland und (dem zum Glück nicht mehr sehr nationalistischen) post-gaullistischen Frankreich sind dagegen zum bisher nicht im selben Ausmaß vorgekommen. Dennoch sollte man in Berlin nicht zu offensichtlich hegemonial agieren, sondern, wie etwa zu Beginn des letzten Jahrzehnts, eher die Rolle eines primus inter pares einzunehmen.
Es fällt einem als Historiker als Analogie zur momentanen Situation das Kaisertum Österreich vor etwa 150 Jahren ein, das Mitte des 19. Jahrhunderts ethnisch und geopolitisch eine Art kleine EU in Südosteuropa vorwegnahm. Dort schuf man 1867, weil die Nationalitätenfrage im Vielvölkerstaat immer drängender wurde und ihn in eine Existenz- und Identitätskrise stürzte, die durchaus der heutigen europäischen glich, den auch explizit so genannten„Ausgleich“ der Zentralregierung in Wien mit dem zweitgrößten Reichsland, Ungarn; diesem wurde in Budapest eine Regierung zugestanden, zur Verwaltung der südöstlichen „Reichshälfte“, die Ungarn unterstellt wurde; der Kaiser in Wien wurde nun auch „König von Ungarn“ genannt („kaiserlich und königlich“, „k. u. k.“). Das Reich, das seine Existenz schon in und nach der Revolution 1848/49 mehr schlecht als recht und nur mit fremder (russisch-zaristischer) Hilfe hatte behaupten können, schaffte es dadurch, wenn auch nur teilweise und unvollkommen (in der ungarischen Reichshälfte gab es weiterhin Spannungen zwischen den aufmüpfigen Nationalitäten, etwa den Kroaten, und der Budapester Regierung), seine ethnische Pluralität und dennoch gleichzeitig seinen toleranten und kosmopolitischen Grundcharakter beizubehalten. Anders als im vier Jahre später gegründeten Deutschen Reich oder in Italien, die bereits fast vollkommen nationalisiert und sprachlich-kulturell und ethnisch homogen(isiert worden) waren, war Österreich-Ungarn ein ostmitteleuropäisches Vielvölkerreich, in dem ein friedliches und tolerantes Zusammenleben verschiedenster Sprachgruppen, Ethnien und Religionen (Deutsche, Ungarn oder Slawen, die entweder Katholiken, Calvinisten, Orthodoxe, Juden oder sogar Muslime waren) für lange Zeiträume problemlos möglich war; auch dadurch, dass dieses Habsburgerreich an der Peripherie zwischen West- und Osteuropa lag und damit wichtige Handelsrouten zwischen Deutschland und Italien (d.h. dem Mittelmeer) im Westen und Russland (und dem Schwarzen Meer) im Osten durch sein Territorium verliefen.