30.04.2013

Offshore-Leaks und Steuersünder-CDs: Der Fall Hoeneß als Spitze des Eisbergs. Die „wahren Asozialen“ und die moralischen Doppelstandards in Steuerpolitik und Finanzkrise

Der Doppelstandard, der in Sachen Steuern besteht, erscheint angesichts von gesamtgesellschaftlicher Austerität und der globalen Krise der Staatsfinanzen paradox und ungerecht. Die Staaten müssen deutlicher machen, dass es hier ein massives Gerechtigkeitsproblem gibt, und auch stärker danach handeln. Ansonsten wird der Legitimätsglaube, den die Beherrschten den Herrschenden in einer legitimen Herrschaftsordnung entgegenbringen (Max Weber), gerade in diesen Zeiten großer „Politikverdrossenheit“ und sozialer Atomisierung und Spaltung, noch weiter untergraben.


Offshore-Finanzplätze nach Angaben der OECD und des Tax Justice Network (grün markiert)










Das „wattierte Sonderstrafrecht“ (Heribert Prantl), das das Steuerrecht dadurch de facto ist, dass bei Selbstanzeige auch bei hohen Beträgen Straffreiheit gewährt wird, muss diesen Status verlieren. Auch ist der Begriff „Steuersünder“ irreführend: Er suggeriert, dass Steuerflucht und Geldwäsche zu vergebende Fehltritte und legitime Kavaliersdelikte seien. Dabei handelt es sich jedoch um illegitimen, massiven Betrug an der Gesellschaft und bei den Steuerflüchtlingen um die „wahren Asozialen“. So titelte nicht etwa die „Junge Welt“, sondern das nicht gerade als marxistisch-leninistisches Zentralorgan bekannte konservative Magazin „Cicero“ (das vom Schweizer (!) Ringier-Verlag herausgegeben wird) jüngst und beschrieb unter dieser Überschrift die Perversionen der momentanen globalen Finanzsituation, durch die sogenannten "Offshore-Leaks" verdeutlicht:

"Die wahren Asozialen"

Während Millionen von Menschen in einem reichen Land wie der Bundesrepublik nicht von ihrem Lohn leben können, schaffen die Superreichen ihr Vermögen in die Steuerparadiese dieser Welt, um dem Finanzamt zu entkommen – und die Sparkanzlerin schaut zu. Kaum sind die Feierlichkeiten zu zehn Jahren Agenda-Politik ["Agenda 2010", Anm. d. A.] über die Bühne gegangen, kaum ist zum 1. April in England der größte sozialpolitische Einschnitt seit dem 2. Weltkrieg in Kraft gesetzt worden, während die südeuropäischen Krisenländer ihre Sozialausgaben eindampfen müssen, liefert Offshore-Leaks den kontrafaktischen Meta-Kommentar zur Schuldenkrise und zur sozialen Frage.

(…)
Während sich eine steinreiche Finanzaristokratie (...) um nichts mehr sorgt, als um die Mehrung ihres Vermögens, können Millionen von Menschen in einem reichen Land wie der Bundesrepublik nicht von ihrer realen Arbeit leben. (…) Es ist deshalb alles andere als unredlich, in Zeiten knapper öffentlicher Haushalte und des demographischen Wandels von den privilegierten Generationen über Vermögens- oder höhere Erbschaftssteuern zurückzufordern, was in Zeiten des Überflusses gegeben wurde. Ein kleiner, aber eben nicht selten sehr vermögender Teil dieser bevorteilten Generationen hat indes den Generationenvertrag durch Steuerverweigerung aufgekündigt. Eher noch verabschieden sich die Vermögenseliten (oder wenigstens deren Vermögen) aus den sie schützenden und privilegierenden Gesellschaften, sobald ihre Verantwortung gefragt ist.“ Einerseits entziehen also die erwähnten Superreichen Milliardenbeträge der Gesellschaft, in dem sie sie in Steueroasen anlegen; dies ist teilweise durch entsprechende Geschäftsmodelle ("Briefkastenfirmen", Stiftungen) der Geldwäsche bzw. Steuerflucht legal. Andererseits wird die Einkommens-Mittelschicht zur (Steuer-)Kasse gebeten, teilweise, um die halbseidenen Banken, die jene Geschäftsmodelle anbieten und von ihnen profitieren, zu „retten“, teilweise, um unnötige Prestigeprojekte zu finanzieren, während dringend nötige Investitionen in wichtige soziale (Kitas, Schulen, Hochschulen, sozialer Wohnungsbau) und Verkehrs-Infrastruktur (ÖPNV, Straßenbau) vernachlässigt bzw. zurückgestellt werden.

Plakativ ausgedrückt, das Primat über die Verwendung der Steuergelder liegt bei den „systemrelevanten“ Banken, den Immobilieninvestoren und -spekulanten und den großen (Bau- und anderen) Firmen. Ihnen fließen diese Steuermittel direkt oder indirekt zu, während kleine und mittelständische Unternehmer um ihre Existenz fürchten müssen. Die Allgemeinheit, die z.B. in den Städten mit stetig steigenden Mieten zu kämpfen haben, auf maroden Straßen fahren und überfüllte öffentliche Nah- und Fernverkehrsmittel nutzen, müssen für jene die (Steuer-) Last mittragen, die sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung durch zum Teil zwar legale, aber nicht legitime Steuerflucht oder Geldwäsche entziehen. Daran, dass am anderen Ende der Einkommensschere Millionen Menschen in Deutschland nicht oder nur prekär von der Entlohnung ihrer Arbeit leben können, sei hier nur nochmals “en passant“ erinnert; dies wurde hier im Februar bereit ausführlicher thematisiert (siehe meinen folgenden Artikel: "Aufstocker, Amazon-Skandal, Mindestlohn-Debatte und das Prekariat").

Die moralische Verkommenheit jener, die die Befriedigung ihrer persönlichen Gier über die Pflicht stellen, ihren steuerlichen Beitrag zu der Gesellschaft zu leisten, die ihnen die Rahmenbedingungen (Schule, Universität oder Ausbildung, Rechtssicherheit) geliefert hat, unter denen sie zu finanziellem Wohlstand gelangt sind, ist Ausweis des Verlustes des im Neoliberalismus des späten 20. und des frühen 21. Jahrhunderts nicht mehr ausgebildeten Solidaritätsgedankens. Der Umbau des Bildungssystems weg von humanistischer Menschenbildung hin zur Dominanz der Lehre vom „wissenschaftlichen Kapitalismus“ mit seiner ratio von individueller Nutzenmaximierung und skrupellos-rücksichtslosem Profitstreben an so manchen Hochschulen, v.a. den “business schools“, etabliert diese Denkweise bei den aktuellen und zukünftigen Finanzeliten und „ehrbaren Geschäftsmännern“.

Diese werden im gleichen Atemzug und in der gleichen Logik als „erfolgreiche Unternehmer“ gefeiert, wie der nun gefallene Held Hoeneß, oder als nationale Heroen verehrt, wie die Formel-1-Weltmeister Michael Schumacher oder Sebastian Vettel, die aber mit Deutschland aus steuerlichen Gründen schon lange nichts mehr zu tun haben (außer der Flagge, die bei ihren Siegen hochgezogen wurde und wird). 
Hauptverantwortlich dafür sind die Boulevardmedien wie die BILD, die diese Personen zu Helden hochstilisieren, quasi zu Halbgöttern aufbauen; geraten diese dann aber ins Visier der Steuerfahndung, d.h. ist ihr öffentlicher Heldenstatus in Gefahr, wird schnell ein anderes Thema hochgezogen, zur Ablenkung der Massen, ohne Rücksicht auf Verluste bzw. auf zwischenmenschliche Etikette.


21.04.2013

Angriff auf die „Festung Amerika“? Der "war on terror" als Legitimation von Überwachung, Abschottung und Privatisierung städtischer Lebensräume im Namen der „Sicherheit“

Statt Pragmatismus herrscht Panikmache in den USA. Der Marathon-Anschlag zeigt aber einmal mehr, dass der Terrorismus nicht „bis zur Ausrottung bekämpft“ werden kann, sondern immer Begleiterscheinung der westlichen, (noch?) liberalen und offenen Gesellschaften bleiben wird; dies gilt vor allem für Attacken „von innen“ durch Einzeltäter, wie eben jene jüngste in Boston. Die momentan vorherrschende Kontroll- und Überwachungsstrategie der Regierungen, die Überwachung fordern und die Abschottung und Privatisierung bestimmter urbaner Räume durch private Finanz- und Wirtschaftsakteure zulassen, sind Teil eines Strebens nach einer Unverwundbarkeit, die es in einer „offenen Gesellschaft“ (Karl Popper) nie geben kann.

"One Nation Under CCTV", Parole des Graffiti-Künstlers Banksy an einer Hauswand in London, die auf den britischen Überwachungsstaat anspielt und die religiöse Sentenz "One Nation Under God", Teil des US-amerikanischen Treue-Gelöbnisses ("Pledge of Allegiance"), kritisch abwandelt 

Eben jenes Streben, der "war on terror", aber untergräbt diese Gesellschaftsform und das liberale, offene und pluralistisch-demokratische Selbstverständnis der westlichen Städte; diese sollen nach dem Willen der „Sicherheitspolitiker“ sicherheitstechnisch wie Flughäfen werden. Nicht der Terrorismus selbst, sondern v.a. diese Reaktion der sich mit Forderungen nach mehr Sicherheit und Überwachung überschlagenden Politik (wie Bundesinnenminister Friedrich) darauf ist es, die den Liberalismus einschränkt. Zudem zeigt sich in der Berichterstattung der Medien zum Marathon-Attentat ein immer noch krasser Aufmerksamkeits-Doppelstandard zwischen dem Westen und dem „Rest“ der Welt. Durch die exzessive Berichterstattung wurde die Sensationslust der US-Gesellschaft wieder einmal gestillt und ein simplistisches schwarz-weißes Gut-Böse-Weltbild befördert.

„Stadtluft macht frei“ hieß es im Mittelalter; die Menschen entflohen den Verhältnissen auf dem Land, der Abhängigkeit von ihren Feudalherren, die ihnen gegen Tribut Schutz boten. In der Stadt erlebten die Menschen mehr als auf dem Land eine von Adel und Klerus gelöste neue bürgerliche Freiheit, die sich in dem Anspruch, die Freiheit des Handels und die dauerhafte Garantie der menschlichen Grundrechte (Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, Französische Revolution 1989) anzustreben, manifestierte. Auch heute sind die Städte, die großen kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Zentren der westlichen Welt, noch immer Anziehungspunkt für viele Freiheitssuchende, die die Vielfalt z.B. des kulturellen Angebots anzieht, aber auch die Anonymität bzw. Toleranz ihres individuellen Lebensstils, die als Ausweis von Urbanität gilt. Metropolen wie New York oder London sind aber auch deshalb hoch anfällige Gebilde, die von Terroristen oder Amokläufern als Bühne für ihre Aktionen zur Generierung medialer Aufmerksamkeit gesehen und genutzt werden. Bereits Jahrzehnte vor den Ereignissen des 11. September 2001 gab es Attentate in westlichen Städten, durch Terroristen verschiedenster Couleur und politischer Ausrichtung, von der IRA über die ETA bis zu islamistischen Gruppen.





Diese Dokumentation, "Städte in Angst: Wie sich Metropolen vor dem Terror schützen" von Dagmar Brenecke und Walter Brun (Produzent: Jürg Neuenschwander), zeigt die Reaktion der politischen und wirtschaftlichen Eliten; eine zunehmende Re-Fortifikation und Re-Feudalisierung bestimmter Stadtviertel, jener, in denen sich die Zentren der Macht befinden, das klassische Beispiel ist London, wo etwa die City of London teilweise bzw. Canary Wharf vollständig von privaten Sicherheitsdiensten überwacht werden, die „unliebsamen“ oder verdächtig aussehenden „Subjekten“ den Zugang verwehren können (die City etwa ist von einem “ring of steel“, d.h. Stahlbetonhindernissen an den Straßen, umgeben). So entstehen abgeschottete „Enklaven der Macht“. Der ursprünglich schon seit der Urbanisierung vor Jahrhunderten für die meisten und in den letzten Jahrzehnten für alle freie öffentliche Stadtraum wird so wieder privatisiert. Investoren, die sich eine exklusive „Welt“ für sich und ihresgleichen schaffen wollen, in der sie nicht jeden dulden, kaufen riesige Areale in den Innenstädten, die sie kontrollieren können. Nicht nur in der Finanz- bzw Wirtschaftswelt, wo durch diese dem Geldadel, plutokratisch, mehr und mehr Macht zukommt, sondern auch in der Stadtarchitektur findet so eine Re-Feudalisierung der Verhältnisse statt. Die westlich-kosmopolitische Stadt, Sinnbild für Öffentlichkeit, Offenheit, Toleranz und ein Zusammenleben in einem pluralen Schmelztiegel, wird in vielen Vierteln ihrer Attraktivität beraubt. Diese Entwicklung wird durch eine immer uniformere, gesichtslose Architektur steriler Bürogebäude und Einkaufszentren, die überall auf der Welt gleich aussehen, ergänzt; der ehemals architektonisch eigenständige Charakter vieler Innenstädte, der diese aus- und attraktiv macht, wird nivelliert in einer Einheitssauce. Die Botschaft dieser Entwicklungen scheint zu sein: Die Leute sollen einfach nur in Ruhe arbeiten und (Medien und Waren) konsumieren gehen und dabei am besten nicht von Terroristen gestört werden. Nicht um die Abwendung von Gefahr für Leib und Leben der Bevölkerung geht es primär beim „war on terror“, sondern um die Beförderung der Abschottung der Eliten bei gleichzeitiger Überwachung der anderen und um die Aufrechterhaltung der konsumistischen und unkritischen Grundhaltung gegenüber der eigenen Gesellschaft durch den Aufbau von Feindbildern, die nicht „Teil unserer Gesellschaft“ bzw. unseres “way of life“ sind. 
Der Mensch ist in der „schönen neuen Welt“ nur noch als Arbeiter und Konsument in den privatisierten Büro- und Konsumzentren willkommen, nicht als in einem öffentlichen Raum sich bewegender (mehr oder minder kritischer) Bürger, wie seit den Tagen der griechischen agora und des römischen forum. 

Die infantile Reaktion der jubelnden Menge in Boston, chauvinistisch und aggressiv “USA, USA“ zu schreien, nachdem die beiden mutmaßlichen Täter getötet bzw. verhaftet wurden, und das damit verbundene Schwarz-Weiß-Denken („Wir sind eine Nation, die die Unschuldigen schützt und die Bösen bestraft und jetzt haben wir einen der Bösen zur Strecke gebracht“, wie einer der Jubelnden dort sagte), sind erschreckende Zeugnisse eines durch die Medienöffentlichkeit der Vereinigten Staaten stark beförderten simplen Weltbildes, das das Land als unter ständiger Bedrohung von „bösen“ Terroristen stehend darstellt; ausgerechnet die USA, wo mit Ausnahme der Anschläge vom 11. September (und selbst deren Umstände sind ja aufgrund einiger Ungereimtheiten bis heute umstritten) fast alle Terrorattacken und Amokläufe von einheimischen Tätern begangen wurden (z.B. Oklahoma City 1993, der Unabomber 1978 bis 1995). Kein Land der Welt ist unverwundbar und gegen Attacken wie die von Boston gefeit, besonders aber die USA, die in aller Welt einen asymmetrischen "Krieg gegen den Terror“ führen, sollten sich dessen deshalb besonders bewusst sein und, bei aller individueller Betroffenheit, pragmatisch und nicht mit Panikmache reagieren; gerade durch ihr militärisches Vorgehen (das natürlich von der Rüstungsindustrie so gewollt ist) gegen die „Terroristen“, anstatt durch rationale kriminalistische Aufklärung (etwa britischen Stils nach den Anschlägen von London 2005), verursachen sie die Fortführung jenes selbst erklärten Krieges.