28.04.2021

Transatlantische Nibelungentreue und eindimensionale Doppelmoral: Sittenbild der „liberalen (marktkonformen) Demokratien“ in der Außenpolitik und der Covid-Krise

Vor genau einem Jahr, am 28. April 2020, schrieben wir hier: „Gehen wir nicht von 40, sondern eher von ungefähr 400 Tagen aus, bis diese Situation, zumindest aus medizinischer Sicht, (hoffentlich) gelöst ist.“ Diese Prognose scheint sich, zumindest für unsere Gefilde, d.h. Mitteleuropa, ziemlich genau zu bewahrheiten, wenn wir davon ausgehen, dass der Beginn weitreichenderer und dauerhafter Lockerungen der „Corona-Maßnahmen“ wahrscheinlich in etwa sechs bis acht Wochen, d.h. ab etwa Mitte des Jahres, erfolgen werden; regional natürlich noch je nach Lage abgestuft, aber wohl doch in den meisten Ländern Europas.


Wir schrieben auch, dass sich die Rüstungsausgaben laut dem aktuellen Bericht des Stockholmer Instituts für Internationale Friedensforschung (SIPRI) für 2019 auf ein erneutes Rekordniveau steigerten; im aktuellen Bericht (26.04.2021) hat SIPRI trotz Pandemie eine erneute Steigerung um mehr als 2% (64 Milliarden US-Dollar) konstatiert, von 1917 Billionen US-Dollar 2019 auf 1981 Billionen US-Dollar 2020. Ein Anzeichen für eine Beruhigung der geopolitischen Lage ist dies nicht, v.a. angesichts der Tatsache, dass die beiden größten Militärmächte und globalen Gegenspieler, die USA und China, ihre Militärbudgets auch jeweils signifikant erhöht haben; China auf 252 Milliarden Dollar, was einer Steigerung um 1,9% entspricht, wird dabei aber noch bei weitem von den USA übertroffen, deren Ausgaben annähernd 40% aller globalen Rüstungsausgaben ausmachen (788 Milliarden Dollar), sie steigerten diese um 4,4% im Vergleich zum Vorjahr. Dahinter liegen, aber mit großem Abstand, Indien (knapp 73 Milliarden) und Russland (knapp 62 Milliarden), dann folgen fast nur NATO-Mitglieder oder andere Verbündete der USA, nämlich das Vereinigte Königreich (59,2 Mrd.), Saudi-Arabien (57,5 Mrd.), Frankreich (52,7 Mrd.), Deutschland (52,8 Mrd.), Japan (49,1 Mrd.), und Südkorea (45,7 Mrd.), und auch dahinter folgen mit Brasilien, Italien, Australien, Kanada und Israel nur US-Vasallen.









Diese nackten Zahlen untermauern also nicht, was Tag für Tag relativ unwidersprochen von US-amerikanischer Seite propagiert wird und (zumindest dem politischen und medialen Mainstream) in Europa relativ selten hinterfragt wird: nämlich dass auf Seiten des Westens und der NATO sogar noch mehr Rüstungsausgaben nötig seien. Seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, und auch schon in der Zeit vor der Trump-Ära, drängten die USA ihre NATO-Verbündeten, v.a. Deutschland, mehr als 2% für ihr Militär auszugeben; paradoxerweise erreicht aber nicht einmal das angeblich bis an die Zähne bewaffnete China mit seinen 1,9% diese Steigerung (und gibt in absoluten Zahlen nur 33% des US-Militärbudgets aus), erfüllt also diese US-Kriterien nicht einmal. Dennoch wird China als die große Gefahr dargestellt. Und europäische, auch deutsche Politiker fast aller Parteien folgen diesem transatlantischen Narrativ in kritikloser „Nibelungentreue“, in ähnlicher Weise auch gegenüber Russland oder dem Iran(Fareed Zakaria analysierte diese hyperbolische US-Propaganda jedoch vor kurzem trefflich auf CNN)


 Anstatt zu benennen, worum es sich bei allen geopolitischen Manövern handelt, nämlich um eine (wirtschafts- und macht-) interessengesteuerte Außenpolitik, der USA genauso wie China, Russland und aller anderen Staaten, wird das Narrativ von „Gut und Böse“, von angeblich humanitärer US-Außenpolitik einerseits, aggressiver Außenpolitik Russlands, Chinas, oder des Iran andererseits, weiterverbreitet; dass Staaten wie Saudi-Arabien und die Türkei, oder auch immer die Staaten in Südamerika, die jeweils von Rechtsextremen regiert werden, wie z.B. Brasilien, Verbündete dieser ach so humanitären Supermacht sind, wird dabei geflissentlich ignoriert oder verschwiegen; ebenso wie die Tatsache, dass die USA bis heute nicht dem Internationalen Kriegsverbrechertribunal beigetreten sind, und dass von US-Basen in Deutschland ausgeführten, um es milde auszudrücken, juristisch fragwürdigen Drohnenmorde der USA, oder die umstrittene Inhaftierung des Wikileaks-Gründers und Enthüllungsjournalisten Julian Assange unter in London, die auf Geheiß der USA erfolgte (auch wenn er letztlich einer Auslieferung in die USA bisher entgangen ist), während dagegen der „Fall Nawalny“ sehr ausführlich nicht nur in den Medien, sondern auch bei westlichen Außenpolitikern zur Sprache kam und kommt und dieser zu einer „die zwischenstaatlichen Beziehungen mit Russland belastenden“ Affäre gemacht wird. In dem einen Fall handelt es sich um einen australischen Staatsbürger, der aufgrund von „Hochverrat“ (als Nicht-Staatsbürger!) von einem fremden Staat angeklagt bzw. in einem anderen fremden Staat verhaftet wurde, und in dessen Fall man sicherlich auch genauso plausibel argumentieren könnte, dass seine Enthüllungen von der Pressefreiheit gedeckt sind; wie auch immer man dies sieht oder zu ihm steht, die Bedingungen, unter denen Assange im Belmarsh Prison sitzt, sind unverhältnismäßig, erst recht in einer angeblich „liberalen Demokratie“ wie dem Vereinigten Königreich, und wurden als Folter eingestuft. Der Fall Assange spielt aber, im Gegensatz zur täglichen Nawalny-Schau, in der allgemeinen Berichterstattung bzw. öffentlichen Aufmerksamkeit bis auf vereinzelte Artikel wie dieser von Ortwin Rosner -  so gut wie keine Rolle, und wird auch so gut wie nie von Politikern, geschweige denn Regierungen thematisiert.


I
m anderen Fall, dem Fall Nawalny, dessen Anklage natürlich eine Farce ist, und dessen Inhaftierung in einem Straflager natürlich auch unverhältnismäßig ist, das ist unbestritten, könnte man aber genauso argumentieren, dass es sich um eine zwar politisch motivierte Anklage, aber dennoch letztlich interne russische Angelegenheit handelt, in die sich andere Staaten eigentlich gar nicht einmischen dürften (im Falle russischer Einmischung in Angelegenheiten westlicher Staaten, meist durch Hackerangriffe, wird dies aber ausführlich berichtet und angeprangert). Wenn man aber auch hier wieder moralisch argumentieren will, dass diese westliche Einmischung aber doch gegen einen Autokraten wie Putin und für einen „liberalen Demokraten“ wie Nawalny erfolge, so sei daran erinnert, dass selbst Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International Nawalny, der politisch gesehen zwar wirtschaftlich liberal, aber außenpolitisch keineswegs pro-westlich, sondern nationalistisch eingestellt ist, wegen zweifelhafter xenophober Äußerungen gegenüber Kaukasiern den Status als politischem Gefangenen entzogen
haben. Er erkannte  im Übrigen auch die Annexion der Krim an, was erst recht zeigt, dass er eigentlich nicht die „moralischen“, „westlichen“ Werte vertritt, für die er laut westlichem Narrativ steht bzw. weswegen er angeblich so ein „Hoffnungsträger“ des Westens gegen Putin ist.


Die Doppelmoral zeigte sich vor einigen Jahren auch in einem weiteren Fall, dem Fall Kashoggi. Als dieser, ein saudischer Oppositioneller, von der Regierung grausam ermordet wurde, führte dies weder zu Sanktionen noch zu jeglicher Verurteilung oder Sanktionierung der Riader Regierung durch die USA oder Europa, im Gegenteil, die USA und europäische Staaten beliefern die Saudis weiterhin mit Waffen für den Krieg, den diese im Jemen führen. Desweiteren wird auch über die „Behandlung“ kurdischer und anderer Oppositioneller in der Türkei als „Terroristen“ kaum ein Wort verloren. Da heißt es dann immer: „Wir können die Türkei nicht kritisieren, weil die sonst die Tore für die Flüchtlinge öffnen“. Und im Fall der Saudis sind es die Ölreserven. Also in manchen Fällen (gegenüber Russland und teilweise auch China) ist man hochmoralisch, in den anderen Fällen dann eher doch lieber nicht, wegen wirtschaftlicher Interessen oder „Angst“ vor Flüchtlingen. Man macht sich die Welt also so, wie sie einem gefällt bzw gesteht sich in dem einen Fall nicht ein, dass es Machtinteressen sind, die die Außenpolitik steuern, in den anderen Fällen aber schon. Wie es Lutz Herden trefflich ausdrückt: „die bei US-Präsidenten beliebte Symbiose von Real- und Moralpolitik“.