28.04.2021

Transatlantische Nibelungentreue und eindimensionale Doppelmoral: Sittenbild der „liberalen (marktkonformen) Demokratien“ in der Außenpolitik und der Covid-Krise

Vor genau einem Jahr, am 28. April 2020, schrieben wir hier: „Gehen wir nicht von 40, sondern eher von ungefähr 400 Tagen aus, bis diese Situation, zumindest aus medizinischer Sicht, (hoffentlich) gelöst ist.“ Diese Prognose scheint sich, zumindest für unsere Gefilde, d.h. Mitteleuropa, ziemlich genau zu bewahrheiten, wenn wir davon ausgehen, dass der Beginn weitreichenderer und dauerhafter Lockerungen der „Corona-Maßnahmen“ wahrscheinlich in etwa sechs bis acht Wochen, d.h. ab etwa Mitte des Jahres, erfolgen werden; regional natürlich noch je nach Lage abgestuft, aber wohl doch in den meisten Ländern Europas.


Wir schrieben auch, dass sich die Rüstungsausgaben laut dem aktuellen Bericht des Stockholmer Instituts für Internationale Friedensforschung (SIPRI) für 2019 auf ein erneutes Rekordniveau steigerten; im aktuellen Bericht (26.04.2021) hat SIPRI trotz Pandemie eine erneute Steigerung um mehr als 2% (64 Milliarden US-Dollar) konstatiert, von 1917 Billionen US-Dollar 2019 auf 1981 Billionen US-Dollar 2020. Ein Anzeichen für eine Beruhigung der geopolitischen Lage ist dies nicht, v.a. angesichts der Tatsache, dass die beiden größten Militärmächte und globalen Gegenspieler, die USA und China, ihre Militärbudgets auch jeweils signifikant erhöht haben; China auf 252 Milliarden Dollar, was einer Steigerung um 1,9% entspricht, wird dabei aber noch bei weitem von den USA übertroffen, deren Ausgaben annähernd 40% aller globalen Rüstungsausgaben ausmachen (788 Milliarden Dollar), sie steigerten diese um 4,4% im Vergleich zum Vorjahr. Dahinter liegen, aber mit großem Abstand, Indien (knapp 73 Milliarden) und Russland (knapp 62 Milliarden), dann folgen fast nur NATO-Mitglieder oder andere Verbündete der USA, nämlich das Vereinigte Königreich (59,2 Mrd.), Saudi-Arabien (57,5 Mrd.), Frankreich (52,7 Mrd.), Deutschland (52,8 Mrd.), Japan (49,1 Mrd.), und Südkorea (45,7 Mrd.), und auch dahinter folgen mit Brasilien, Italien, Australien, Kanada und Israel nur US-Vasallen.









Diese nackten Zahlen untermauern also nicht, was Tag für Tag relativ unwidersprochen von US-amerikanischer Seite propagiert wird und (zumindest dem politischen und medialen Mainstream) in Europa relativ selten hinterfragt wird: nämlich dass auf Seiten des Westens und der NATO sogar noch mehr Rüstungsausgaben nötig seien. Seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, und auch schon in der Zeit vor der Trump-Ära, drängten die USA ihre NATO-Verbündeten, v.a. Deutschland, mehr als 2% für ihr Militär auszugeben; paradoxerweise erreicht aber nicht einmal das angeblich bis an die Zähne bewaffnete China mit seinen 1,9% diese Steigerung (und gibt in absoluten Zahlen nur 33% des US-Militärbudgets aus), erfüllt also diese US-Kriterien nicht einmal. Dennoch wird China als die große Gefahr dargestellt. Und europäische, auch deutsche Politiker fast aller Parteien folgen diesem transatlantischen Narrativ in kritikloser „Nibelungentreue“, in ähnlicher Weise auch gegenüber Russland oder dem Iran(Fareed Zakaria analysierte diese hyperbolische US-Propaganda jedoch vor kurzem trefflich auf CNN)


 Anstatt zu benennen, worum es sich bei allen geopolitischen Manövern handelt, nämlich um eine (wirtschafts- und macht-) interessengesteuerte Außenpolitik, der USA genauso wie China, Russland und aller anderen Staaten, wird das Narrativ von „Gut und Böse“, von angeblich humanitärer US-Außenpolitik einerseits, aggressiver Außenpolitik Russlands, Chinas, oder des Iran andererseits, weiterverbreitet; dass Staaten wie Saudi-Arabien und die Türkei, oder auch immer die Staaten in Südamerika, die jeweils von Rechtsextremen regiert werden, wie z.B. Brasilien, Verbündete dieser ach so humanitären Supermacht sind, wird dabei geflissentlich ignoriert oder verschwiegen; ebenso wie die Tatsache, dass die USA bis heute nicht dem Internationalen Kriegsverbrechertribunal beigetreten sind, und dass von US-Basen in Deutschland ausgeführten, um es milde auszudrücken, juristisch fragwürdigen Drohnenmorde der USA, oder die umstrittene Inhaftierung des Wikileaks-Gründers und Enthüllungsjournalisten Julian Assange unter in London, die auf Geheiß der USA erfolgte (auch wenn er letztlich einer Auslieferung in die USA bisher entgangen ist), während dagegen der „Fall Nawalny“ sehr ausführlich nicht nur in den Medien, sondern auch bei westlichen Außenpolitikern zur Sprache kam und kommt und dieser zu einer „die zwischenstaatlichen Beziehungen mit Russland belastenden“ Affäre gemacht wird. In dem einen Fall handelt es sich um einen australischen Staatsbürger, der aufgrund von „Hochverrat“ (als Nicht-Staatsbürger!) von einem fremden Staat angeklagt bzw. in einem anderen fremden Staat verhaftet wurde, und in dessen Fall man sicherlich auch genauso plausibel argumentieren könnte, dass seine Enthüllungen von der Pressefreiheit gedeckt sind; wie auch immer man dies sieht oder zu ihm steht, die Bedingungen, unter denen Assange im Belmarsh Prison sitzt, sind unverhältnismäßig, erst recht in einer angeblich „liberalen Demokratie“ wie dem Vereinigten Königreich, und wurden als Folter eingestuft. Der Fall Assange spielt aber, im Gegensatz zur täglichen Nawalny-Schau, in der allgemeinen Berichterstattung bzw. öffentlichen Aufmerksamkeit bis auf vereinzelte Artikel wie dieser von Ortwin Rosner -  so gut wie keine Rolle, und wird auch so gut wie nie von Politikern, geschweige denn Regierungen thematisiert.


I
m anderen Fall, dem Fall Nawalny, dessen Anklage natürlich eine Farce ist, und dessen Inhaftierung in einem Straflager natürlich auch unverhältnismäßig ist, das ist unbestritten, könnte man aber genauso argumentieren, dass es sich um eine zwar politisch motivierte Anklage, aber dennoch letztlich interne russische Angelegenheit handelt, in die sich andere Staaten eigentlich gar nicht einmischen dürften (im Falle russischer Einmischung in Angelegenheiten westlicher Staaten, meist durch Hackerangriffe, wird dies aber ausführlich berichtet und angeprangert). Wenn man aber auch hier wieder moralisch argumentieren will, dass diese westliche Einmischung aber doch gegen einen Autokraten wie Putin und für einen „liberalen Demokraten“ wie Nawalny erfolge, so sei daran erinnert, dass selbst Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International Nawalny, der politisch gesehen zwar wirtschaftlich liberal, aber außenpolitisch keineswegs pro-westlich, sondern nationalistisch eingestellt ist, wegen zweifelhafter xenophober Äußerungen gegenüber Kaukasiern den Status als politischem Gefangenen entzogen
haben. Er erkannte  im Übrigen auch die Annexion der Krim an, was erst recht zeigt, dass er eigentlich nicht die „moralischen“, „westlichen“ Werte vertritt, für die er laut westlichem Narrativ steht bzw. weswegen er angeblich so ein „Hoffnungsträger“ des Westens gegen Putin ist.


Die Doppelmoral zeigte sich vor einigen Jahren auch in einem weiteren Fall, dem Fall Kashoggi. Als dieser, ein saudischer Oppositioneller, von der Regierung grausam ermordet wurde, führte dies weder zu Sanktionen noch zu jeglicher Verurteilung oder Sanktionierung der Riader Regierung durch die USA oder Europa, im Gegenteil, die USA und europäische Staaten beliefern die Saudis weiterhin mit Waffen für den Krieg, den diese im Jemen führen. Desweiteren wird auch über die „Behandlung“ kurdischer und anderer Oppositioneller in der Türkei als „Terroristen“ kaum ein Wort verloren. Da heißt es dann immer: „Wir können die Türkei nicht kritisieren, weil die sonst die Tore für die Flüchtlinge öffnen“. Und im Fall der Saudis sind es die Ölreserven. Also in manchen Fällen (gegenüber Russland und teilweise auch China) ist man hochmoralisch, in den anderen Fällen dann eher doch lieber nicht, wegen wirtschaftlicher Interessen oder „Angst“ vor Flüchtlingen. Man macht sich die Welt also so, wie sie einem gefällt bzw gesteht sich in dem einen Fall nicht ein, dass es Machtinteressen sind, die die Außenpolitik steuern, in den anderen Fällen aber schon. Wie es Lutz Herden trefflich ausdrückt: „die bei US-Präsidenten beliebte Symbiose von Real- und Moralpolitik“.


Russland hat sicher Schuld oder Mitschuld an einigen Konflikten und Kriegen in seiner unmittelbaren Peripherie (Tschetschenien, Georgien, Krim/Ukraine) und hat in Syrien eingegriffen, hat dies aber nie moralisch oder humanitär begründet, sondern es war klar, dass dahinter immer, mehr oder weniger offen,
geostrategische bzw. machtpolitische Interessen standen. Die USA oder der Westen dagegen hat seine Kriege immer mit humanitären Gründen oder „westlichen Werten“ begründet, die sich in den allermeisten Fällen aber als schlichtweg falsch, d.h, erfunden bzw. erlogen, oder mindestens als übertrieben, herausstellten, und die meistens zu keiner Verbesserung der Situation geführt haben (Afghanistan, Irak, Libyen). Vergessen sind bei den transatlantischen Treueschwüren unsrer europäischen Politiker z.B., um nur die, nach Vietnam, krasseste unter den Dutzenden von angeblichen humanitären US-„Interventionen“ der letzten Jahrzehnte hier in Erinnerung zu rufen, die Lügengeschichten George W. Bushs vor dem katastrophalen Irakkrieg 2003, durch den die USA nicht nur eine Destabilisierung der Region und den Aufstieg von islamistischen Terrorgruppen wie dem IS, sondern auch Hunderttausende von Todesopfern direkt oder indirekt zu verantworten haben. Es hieß doch schon immer und heißt auch unter Biden wieder „America first“; Trump sprach dies nur offen aus, vertrat aber paradoxerweise in manchen Fällen (zB gegenüber Russland) eine weniger harte Linie, dafür aber eine umso härtere gegenüber dem Iran und China, was sich bei Biden außer im Fall von China jetzt genau wieder umgekehrt hat. Aber bis auf den etwas multilateraleren Ansatz vertritt Biden eine genauso interessengesteuerte Außenpolitik wie jeder US-Präsident vor ihm, auch wenn er sich das grüne Mäntelchen umgehängt hat und im Gegensatz zu Trump in diesem Bereich ambitionierter erscheint. Aber ein Bekenntnis zu den Zielen der Klimakonferenz bedeutet nicht eine Abkehr von der Vertretung der Wirtschaftsinteressen der großen eigenen Firmen.


Wer all dies anspricht, wer statt dem US-Exzeptionalismus (d.h. der angeblichen moralischen Überlegenheit der USA) die „realpolitische Idee von einer multipolaren Idee“ (Herden) als plausibler bei der Analyse der Außenpolitik findet, wird aber als „Russlandversteher“ diskreditiert (was soll das überhaupt genau bedeuten, und ist das Gegenteil davon ein „Amerikaversteher“?) oder aber als Zyniker, als „naiv“ oder als „weltfremd“, tituliert. Es sei halt nun mal so, dass man den USA folgen müsse, weil sie ja eine „liberale Demokratie“ seien, unabhängig davon, dass dies sowohl innenpolitisch bzw. von der politischen Partizipation zweifelhaft ist bei einem Wahlsystem, in dem Ärmere oder Minderheiten indirekt dadurch benachteiligt werden, dass fast nur Millionäre oder Milliardäre, oder solche, die diese Summen irgendwie aufbringen können, in den Kongress kommen können und sich als Präsidenten abwechseln, und direkt durch Gerrymandering und andere Schikanen Arme und Minderheiten im Wahlvorgang selber benachteiligt werden, als auch aus sozialpolitischer Sicht (soziale Ungleichheit, ausbeuterische Arbeitsverhältnisse durch unterdurchschnittliche Arbeiterrechte, mangelhafte Sozial- und Krankenversicherungssysteme, sowie ein schlechtes öffentliches Bildungs- und Gesundheitssystem, auch hier nur überdurchschnittliche Standards für die Reicheren), es sich also um ein politisches System „of the elites, by the elites, for the elites“ handelt (was in den „liberalen Demokratien“ Europas, zumindest was den Einfluss der Wirtschaft auf die Politik betrifft, zunehmend auch so ist, und auch hier ist die soziale Ungleichheit ist in den letzten Jahrzehnten gestiegen, und wird durch die (Sozial-)Politik meist nur unzureichend abgemildert).


Aber eine angeblich „moralische“ oder „wertebasierte“ Außenpolitik, geschweige denn Geopolitik, existiert wohl ebenso wenig wie eine angeblich „moralische“ oder wirklich "solidarische" Politik in der Corona-Krise, auch wenn dies suggeriert wird. Auch in der Corona-Krise gibt es diese nicht Profiten oder Wirtschaftsinteressen unterworfene Moral nicht, auch hier spiegelt sich nur das Wirtschaftssystem wider, in dem der Globale Süden wie immer das Nachsehen hat. Wir sehen einerseits „nach außen“ einen „Impfnationalismus“, der es den ärmsten Ländern der Erde schwer macht, an den dringend benötigten Impfstoff zu kommen, wodurch sich die Krise in diesen Ländern nicht nur erst noch verschärfen, sondern auch zeitlich noch viel länger hinziehen wird als in unseren, im Vergleich dazu privilegierten Ländern. Andererseits war es „nach innen“ nur für eine sehr kurze Zeit zu Beginn der Krise im letzten Jahr möglich, wie wir es vor genau einem Jahr an dieser Stelle beschrieben haben, dass es „erstaunlicherweise möglich war, große Teile der Wirtschaft „herunterzufahren“, um die Ausbreitung einer Pandemie zu verhindern, wo es doch angeblich zuvor aus wirtschaftlichen Gründen unmöglich gewesen war, dies aus anderen längerfristigen Überlegungen heraus zu tun, primär natürlich z.B. die Reduktion von Verkehrsströmen aus Gründen des Klimaschutzes bzw. mit dem vielbeschworenen, aber nicht wirklich konsequent verfolgten Ziel der „Nachhaltigkeit“ - wie sich auf den zahlreichen, so gut wie ergebnislosen „Klimakonferenzen“ gezeigt hatte. Eine Pandemie „bewirkte“ hier mehr als jede Klimakonferenz seit oder vielleicht sogar inklusive jener von Paris.“


Jedoch erscheint es jetzt als unmöglich, dies bei weit höheren Infektionszahlen wieder zu tun, während die angeblich „nicht relevanten“ Teile der Wirtschaft weiterhin im lockdown verharren. Produktionsstätten der Automobilindustrie oder anderer Branchen bleiben offen, ebenso wie z.B. Schlachthöfe, und müssen sich (oder mussten sich bis vor Kurzem) kaum irgendwelchen Sicherheits- bzw. Infektionsschutzauflagen unterwerfen, und Pendeln in die Arbeit oder zur Arbeit ging relativ unvermindert weiter - home office wurde vielerorts nur sehr langsam und gegen viele, auch politische Widerstände eingeführt , während der tertiäre, d.h. Dienstleistungssektor bzw. Handel, größtenteils geschlossen bleibt oder nur sehr reduziert oder unter strengen Auflagen geöffnet ist bzw. seine Dienste oder Waren anbieten kann (von den gastronomischen bzw. touristischen oder kulturellen Branchen ganz zu schweigen). Es profitierten die großen Lebensmittelketten und die omnipräsenten Weltfirmen des digitalen Sektors (Amazon, Apple, Google, Netflix etc.), und die Superreichen an der Spitze dieser Firmen vervielfachten ihr Vermögen. Die soziale Ungleichheit verschärfte sich, nicht nur im Einkommen, sondern auch im Infektions- oder Mortalitätsrisiko, das bei Geringverdienern, die nicht im home office gehen konnten, z.B. in der Pflege oder im Lebensmittelhandel, natürlich höher war. Genauso war bzw. ist es natürlich einkommensschwachen oder auf wenig Wohnraum lebenden Menschen bzw. Familien mit Kindern weniger möglich, home schooling und home office oder Job miteinander zu vereinbaren. Für diese wirkten natürlich auch die Ausgangssperren diskriminierend; ohne viel Wohnraum oder eigenen Garten waren bzw. sind sie dann auch abends in die eigenen vier Wände zurück geworfen. Die Ausgangssperre führt zur Regression in eine „Kernfamilie“ als Idealbild oder ein „bürgerliches Bild von Privatleben“ (Marah Frech), das keine Luft für
Prekarisierte oder alternative, soziophilere Lebenskonzepte vieler Singlehaushalte (v.a. in Großstädten) übrig lässt. Auch andere massive Probleme, wie Depressionen als psychische Langzeitfolgen der Kontaktsperre bzw. sozialen oder physischen Isolation, oder langfristige körperliche Defizite durch Bewegungsmangel durch das Sportverbot in Gruppen, v.a. bei Kindern und Jugendlichen, werden von den weitreichenden Einschränkungen des Lockdowns verursacht. Die Folgen werden wir in einigen Jahren oder Jahrzehnten zu spüren bekommen. Wie es Frank Hellmann in der ZEIT ausdrückte: „Die viel größere Pandemie ist schon unterwegs.“


Staatliche Versuche, die sozialen Folgen bzw. Notlagen oder Prekarität abzumildern, erfolgten durch finanzielle Unterstützung für die Betroffenen, wodurch sicher einiges an unmittelbarer existentieller Not abgewendet wurde. Aber auch in diesem Bereich zeigte sich wieder eine Ungleichbehandlung oder Bevorzugung der Wirtschaft: Denn während viele betroffene Einzelpersonen lange auf die Hilfen warten mussten, bekamen große Firmen schnell Hilfen, meist in Form von Kurzarbeitergeld; übrigens oft auch Firmen, die gar nicht wirklich „in Not gerieten“ wie zB Tesla. Andere Firmen, wie zB Daimler, machten auch aufgrund des mit Kurzarbeitergeld gefördert weiterlaufenden Betriebs Rekordgewinne und erhöhten dann die Dividenden für ihre Aktionäre, transferierten also sozusagen Staatsgeld nicht in die Taschen ihrer Arbeiter, sondern der Firmeneigentümer. Oft wird als Argument dafür, dass man die produzierende Branche nicht auch schließen könne, angeführt, dass diese Firmen ja weiterhin Profite erwirtschaften müssten, um „für die Krise zu zahlen“. Das Verhalten von Daimler spricht in diesem Fall nicht unbedingt dafür. Abgesehen davon, dass viele Bereiche des tertiären Sektors ihre Dienstleistungen mit weniger Infektionsrisiko anbieten könnten, als es im Falle einer Schicht eines Bandarbeiters oder Schlachthof-Mitarbeiters besteht, und ja auch Gewinne oder Profite erwirtschaften. Aber dennoch werden der produzierenden Wirtschaft weiterhin eher Freiheiten gewährt (und die Lieferketten werden nicht gestoppt), als dies bei den Beschränkungen bzw. Kontaktsperren im privaten Bereich der Fall ist. Das falsche Narrativ ist also: „Nicht Großraumbüros oder Fabriken sind für die Ausbreitung des Virus verantwortlich, sondern junge Erwachsene und ihr ausgelassenes Partyleben.“ (Frech) Privatvergnügen oder -unterhaltung durch Treffen in der Gastronomie, durch kulturelle oder auch zB Massensportveranstaltungen werden untersagt, aber zur Arbeit soll weiter jeder gehen, oder wenn er zu den betroffenen Branchen gehört, die das nicht mehr können, ein zwar durch Hilfen (wenn man sie bekommt) alimentiertes, aber sozial isoliertes, oder sehr auf das engste soziale Umfeld oder den eigenen Haushalt beschränktes Leben führen.


Statt einen wie zB von „ZeroCovid“ geforderten kompletten shutdown
für kurze Zeit wirklich allen Bereichen aufzuerlegen, eine „solidarische Arbeitspause“, d.h. auch der kompletten Wirtschaft außer eben der wirklich absolut notwendigen Bereiche wie Pflege oder Lebensmittelproduktion (wozu aber die Automobil- oder Waffenproduktion nicht zählt), was wohl angesichts der bei weitem höheren Zahlen als im ersten lockdown zielführender wäre, ist auch hier wieder eine „Doppelmoral“ zu konstatieren, die einige Bereiche, für die sich eine starke politiknahe Lobby einsetzt, von strengeren Maßnahmen ausnimmt, andere, v.a. private Bereiche aber stärker als nötig bzw. unverhältnismäßig und mit teilweise absurden Regeln einschränkt. "Es ist ein Unding, wenn das Freizeitleben ziemlich kleinlich reglementiert wird und gleichzeitig das Berufsleben vielfach so behandelt wird, als gebe es da keine Infektionen" (Robert Ulmer)


Prangert man aber diese Verschärfung der sozialen Schieflage durch die Ungleichbehandlung bei den Maßnahmen an, wird man in dieselbe Ecke mit „Coronaleugnern“ oder „Covidioten“ gestellt. Paradoxerweise verteidigen diejenigen, die solche Kritik als „unmoralisch“ oder „unsolidarisch“ bezeichnen, damit Maßnahmen von denselben Regierungen, teilweise denselben Personen (wie z.B. Jens Spahn), die jahrzehntelang das Gesundheitssystem zusammengespart und „verschlankt“ haben; diese Austeritätspolitik wird aber nicht als einer der Gründe gesehen, die diese Krise verschärft hat, indem sie Krankenhäuser geschlossen und Intensivbetten abgebaut hat, und im Übrigen auch viele „andere Bereiche der Daseinsvorsorge, von der Gesundheit, Bildung, Wohnen, Wasser- und Energieversorgung und Transport bis zur Verwaltung, ja bis zum Regieren selbst, (…) auf den Markt geworfen [wurden.] und (…) unter seinen Prinzipienfunktionieren [mussten]. Kriterien der Wirtschaftlichkeit ersetzten Kriterien des Gemeinwohls.“ (Ines Schwerdtner). Die Maßnahmen schützen primär nicht die Bevölkerung vor dem Virus, sondern eher diese neoliberalisierten und privatisierten Mc-Kinsey-Staaten (Deutschland gibt zB 433 Mio. für externe Berater aus, so viel wie noch nie) vor dem eigenen Versagen in der Pandemie. Es werden von (Doppel-)Moralisierern aber nicht die großen Firmen dafür kritisiert, dass sie sich nicht auch solidarisch zeigen, indem sie auch in der Arbeitswelt strengere Maßnahmen selbst einführen, oder indem sie zB von sich aus die Produktion einstellen. Nein, es wird eine eindimensionale Schwarz-Weiß-Malerei betrieben, die alle Maßnahmen untertänigst und unhinterfragt als die richtigen befürwortet und Kritik, auch konstruktive Kritik, als „unsolidarisch“, zynisch oder egoistisch kritisiert. Michael Angele schrieb hierzu: „Zynisch empfinde ich doch eher eine Bundesregierung, die das Gesundheitssystem hat schleifen lassen und es jetzt nicht auf die Reihe kriegt, die Bevölkerung schnellstmöglich durchzuimpfen, ja, noch nicht einmal die Traute hat, für zwei oder drei Wochen wirklich alles dicht zu machen – aber einen willkürlichen Inzidenzwert von 165 für Schulschließungen in Gesetzesform gießt, anstatt zu sagen: ‚Geht nach draußen. Macht den Unterricht dort.‘“ Und Katharina Körting macht sich „Sorgen wegen der fortschreitenden Moralisierung der Debatte. Eine mitunter totalitär anmutende Forderung nach ‚Solidarität‘ droht zum Förderprogramm für Denunziantentum und undemokratische Rechtgläubigkeit zu werden. Krankheit, Sterben und Tod werden teils als Totschlagargument genutzt gegen alle Zweifel, ob die Maßnahmen zum Schutz vor Krankheit angemessen, geeignet und verhältnismäßig sind. Und gegen alle Zweifel, ob die Maßnahmen vielleicht selbst zu viel psychisches Leid und Krankheit hervorbringen. Die Alarmstimmung, die seit über einem Jahr herrscht, erschwert eine differenzierte Auseinandersetzung.


In einer recht „homogenisierten Medienlandschaft“ sei das Diskussionsfeld „vermint“ und „man kann sich eigentlich nur vertun in dem Moment, wo man versucht, legitime Kritik an den Maßnahmen zu machen“, so Ulrike Guérot. Als Lösung schlägt sie vor, „nicht dem Virus noch ein System, unsere Kultur, unsere Diskussionskultur, unsere Zivilisation, unsere Grundannahmen der Gesellschaft hinterherzuwerfen.“ 
Statt in Polarisierung und ein Schwarz-Weiß-Denken zu regredieren, das fast an das Denunziantentum der McCarthy-Ära in den USA erinnert, wo an jeder Ecke ein „Kommunist“ vermutet wurde, so wie heute jede Kritik in die „Covidioten“-Ecke gestellt wird, sollte ohne moralische Hyperventilation daran erinnert werden, dass es nicht das Virus per se war, dass die momentane Krise verursacht oder verschärft hat, sondern konkret, die vielerorts nach dem neoliberalen Sparzwang und Effizienzdenken der Post-Kalten-Kriegs-Ära nur noch unzulänglichen Gesundheitssysteme diesem nicht gewachsen waren, und allgemeiner, ein auf Sicht fahrender, auf Kurzfristigkeit ausgerichteter Politikstil vorherrschte – „30 Jahre Neoliberalismus verhindern vorausschauende Politik“. Die Rückkehr zu einem „Staat, der die Vorsorge ernst nimmt“ wäre angebracht, denn nicht die Marktwirtschaft oder Privatwirtschaft, sondern nur der „Staat [ist] über seine einzelnen Institutionen auf den unterschiedlichen Ebenen in der Lage, die Komplexität der Gesellschaft im Blick zu behalten und die Zukunft planbar zu machen. Er ist in der Lage, Kredite aufzunehmen und in strukturschwache Regionen zu investieren, umzuverteilen, Wirtschaft vorausschauend zu lenken und rechtzeitig nachhaltig zu gestalten, weil er über das Profitinteresse einzelner Branchen hinausschaut. Er ist in der Lage, die Verwaltung zu modernisieren. Ein am Gemeinwohl orientierter Staat hätte in der Coronakrise auf die Masken- und Impfproduktion setzen können, er hätte als Industriestaat das technische Know-how und die Kapazitäten für die Umrüstung in Schulen und Betrieben verteilen können. Er wäre planend vorgegangen, aus der schieren Notwendigkeit heraus, nicht aus ökonomischen, ja nicht einmal aus ideologischen Gründen“, so Ines Schwerdtner.


Abschließend – ceterum censeo – stellen wir dieser treffenden 
Analyse bzw. diesem Lösungsvorschlag hier noch einmal das Fazit des Textes von vor einem Jahr an den Schluss: „Eigentlich müsste die Hauptlehre aus dieser Krise das endgültige Ende des neoliberalen Kapitalismus als politischem Leitmotiv sein, nicht nur, aber vor allem in jenen Politikfeldern, die öffentliche Güter oder Menschenrechte bereitstellen, was neben kostenloser staatlicher Gesundheitsversorgung z.B. auch das Recht auf Wohnraum sowie auf eine bedarfsgerechte bedingungslose Grundrente im Alter umfassen sollte. (…) Vor gar nicht allzu langer Zeit waren diese Ideen sogar eher politischer Mainstream als jetzt. Es gab sogar einen Namen dafür: soziale Marktwirtschaft‘. Deren Ende war aber nach dem Ende des Kalten Krieges gekommen, und Schritt für Schritt ging es in Richtung ‚marktkonforme Demokratie‘. (…) Es ist zwar nur eine naive Hoffnung des Autors dieser Zeilen, dass es durch diese Krise wieder in die andere Richtung gehen wird, wenn auch vielleicht nur im Bewusstsein der Menschen, und noch nicht direkt bei den Eliten. Ich bin mir auch bewusst, dass im Zuge dieser Krise mit größter Wahrscheinlich wieder die gleichen Marktmechanismen wie immer greifen, die da heißen: ‚nur die Stärksten überleben‘, oder ‚die Reichen werden noch reicher‘ (wie z.B. die großen Internet-Firmen, oder Amazon), und dass wahrscheinlich in den allermeisten Fällen die Staaten wieder hauptsächlich eher die großen Firmen retten werden, während mittlere und kleine Unternehmen und Selbständige eher selbst schauen müssen, wo sie bleiben, oder mit kurzfristigen Tropfen auf den heißen Stein über Wasser gehalten werden (“socialism for the rich, capitalism for the poor“).“ Um den Bogen zum Anfang dieses Textes zu schlagen, diese Prognosen haben sich bewahrheitet, ebenso wie die oben aufgezeigten Lösungen, aus unserer Sicht, weiterhin die einzige Möglichkeit bleiben, einer (noch stärkeren) Polarisierung bzw. langfristigen sozialdarwinistischen Regression der Gesellschaft entgegenzuwirken. Doppelmoral, die sowohl in der Außenpolitik als auch in der Covid-Krise letztlich mit dem Fokus auf angebliche "Moral" oder (eindimensionale) "Solidarität" die Strukturen der "marktkonformen Demokratie" nur bestärkt, hilft dabei nicht weiter.



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