27.02.2013

Die Italien-Wahl als Spiegel nationaler Medienlandschaften und Ressentiments: Berlusconi oder Gauck – Die Hegemonie des populistischen Boulevards oder „europäisches arte für alle“? Zur Zukunftsperspektive eines gesamteuropäischen Mediums im Sinne des Transparenzideals

Bundespräsident Gaucks Anregungen zu einem „europäischen arte für alle“, d.h. zu gesamteuropäischen Medien, mögen als elitär und als Teil einer „von oben“ oktroyierten Europa-Doktrin verschrien werden. Zur Überwindung nationaler Ressentiments und zur Schaffung von Transparenz in der Eurokrise wären solche Medien dennoch notwendiger denn je, als Korrektiv nationaler Boulevardmedien der Murdochs (News Corporation) und Berlusconis (Mediaset). Eine transnationale bzw globale und an Transparenz interessierte (Gegen-) Öffentlichkeit kann nicht auf das Internet und damit die „digitale Dimension“ beschränkt bleiben.

"No al berlusconismo, no alla Mafia" - Graffito auf Sardinien (2008)



Zwei Ereignisse der vergangenen Tage zeigten in aller Deutlichkeit die Diskrepanz auf zwischen gesamteuropäischen Ideen und Theorien zu medialer Öffentlichkeit einerseits und der immer noch primär national geprägten politischen Praxis des (Medien-) Alltags andererseits: Die Europa-Rede des Staatsoberhaupts des größten Landes der EU, des deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck, am Freitag, und die Wahl im viertgrößten Land der Union, Italien, am Sonntag und Montag. Ein Anstoß Gaucks, dessen Rede ansonsten leider recht allgemein und unverbindlich gehalten war und aus einer Aneinanderreihung von allerlei Allgemeinplätzen zur Zukunftsperspektive Europas bestand, war, ein gesamteuropäisches „arte für alle“ zu schaffen. Dies sei zur Generierung einer gesamteuropäischen, grenzüberschreitenden europäischen Öffentlichkeit notwendig.

Wie national „Öffentlichkeiten“, „öffentliche Meinungen“ und Medien bisher sind, sieht man an den populistischen, mediengenerierten Stimmungen in einigen europäischen Ländern besonders deutlich: in Ungarn, wo die Medien rechtsextrem-nationalistische Perspektiven einnehmen und antieuropäische, antiliberale, antisemitische und antiziganistische Hetzpropraganda verbreiten müssen, wenn sie von den neofaschistisch-rechtsnationalistischen Machthabern nicht zensiert werden wollen (oder aus dem Wiener Exil weiter schreiben müssen wie der "Pester Lloyd"); in Großbritannien, wo die 
“splendid isolation“ der Insel hoch gehalten wird von anti-kontinentalen Boulevard-, aber auch „seriösen“ Medien, die die Meinungsbildungs-Hegemonie inne haben (diese sind größtenteils Teil von Rupert Murdochs globalen Medienkonsortium, stramm auf eine euroskeptische, wirtschaftsliberal-sozialdarwinistische Linie eingestellt); und natürlich in Italien, wo bis auf wenige Ausnahmen (z.B. „La Repubblica“) die Medien in der Hand eines Multimilliardärs, Silvio Berlusconi, konzentriert sind und quasi dessen Kontrolle unterliegen. Weitere Konzentrationen von Meinungsmacht in den Medienlandschaften anderer Staaten könnten angeführt werden (Stichworte Bertelsmann und Springer (BRD), Mediaprint (Österreich)); aus aktuellem Anlass sei hier aber besonders auf Italien verwiesen.

Hier hat die „Berlusconisierung“, d.h. Konzentration der Medien in einer Hand, dazu geführt, dass die Mittelmeer-Halbinsel, einstige Hochburg der politischen Linken in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, in den letzten etwa zwanzig Jahren, von Berlusconis rechtskonservativ-nationalistischem Bündnis („Popolo della Liberta“, vorher „Forza Italia“), das zeitweise auch rechtspopulistische oder neofaschistische Parteien beinhaltete oder aktuell beinhaltet („Lega Nord“, „Alleanza Nazionale“), zumindest medial, oft auch politisch, dominiert wird; seitdem nach den so genannten „Mani pulite“-Ermittlungen wegen Korruption, Amtsmissbrauch und illegaler Parteienfinanzierung („Tangentopoli“) das Parteiensystem 1993-95 quasi neu entstand (die konservative „Democrazia Cristiana“ sowie die sozialistische PSI gingen unter), regierte der Multimilliardär Berlusconi vier mal, insgesamt zehn Jahre. Für den aktuellen Urnengang, zu dem er überraschenderweise wieder antrat, hatten ihm die meisten Experten im In- und Ausland keinerlei Chancen mehr eingeräumt, das Kapitel Berlusconi schien abgeschlossen. Durch seine populistische Hetzpropaganda gegen Brüssel und Berlin, die er natürlich durch überproportional hohe Präsenz in seinen Medien auch ausführlich bei der Wählerschaft anbringen konnte, gelang es Berlusconi, dem ultimativen "comeback kid“ der italienischen Politik, nun doch nochmal ein Ergebnis zu erreichen, das Italien wieder einmal politisch lähmt: Das Links-Mitte-Bündnis unter Bersani ist selbst in einer Koalition mit der gemäßigten Mitte-Rechts-Partei des bisherigen Interimspremier Monti zu schwach, um allein regieren zu können; Berlusconis Partei kann jegliche Gesetzesinitiativen zu dringend notwendigen Reformen im Abgeordnetenhaus und erst recht im Senat blockieren. Das gute Wahlergebnis Berlusconis, eines verurteilten Betrügers, der es trotz dieses Imagekratzers schafft, große Teile der Bevölkerung zu seinen Gunsten zu manipulieren, ist ein formvollendetes Exempel medial gesteuerter politischer Beeinflussung der Wählerschaft; die Krise, die viele wirtschaftlich trifft und sie nach einem „starken Mann“ rufen lässt, tut ihr übriges dazu, dass der Rattenfänger erfolgreich ist.

Bisher schien Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, erst recht seit dem Ende des Kalten Krieges, im Vergleich zu Amerika der Teil der „entwickelten“ Welt, der eher die „gemäßigte Moderne“ (Richard Münch) verkörperte, die Extreme amerikanischer medialer “showmanship“, von Oberflächlichkeit und Propaganda (a la "Fox News"), zumindest in den Nachrichtensendungen, vermied; doch Berlusconis medialer 
modus operandi und die bedenklichen Entwicklungen der Boulevardisierung anderer nationalen Medienlandschaften in der Finanz-, Währungs- und Wirtschafts-Krise sind bedenkliche Anzeichen einer Amerikanisierung Europas in dieser Hinsicht. Anstelle von Transparenz und sachlicher Aufarbeitung findet man in diesen (leider Massen-)Medien emotionale Zuspitzung und Platituden, Hetzpropaganda („faule Pleite-Griechen“, „Neger wollen unser Geld“) und ein an Orwell'sches “newspeak“ erinnerndes Verschleierungsvokabular an „Unworten“ („die Märkte“, „Flexibilität am Arbeitsmarkt“, „marktkonforme Demokratie“ (Merkel), „nationales Interesse“). Sendungen oder Artikel, die im Sinne des Transparenzideals aufklärerisch wirken, findet man selten oder nur in Medien mit geringer Auflage (oder im Fernsehen und Radio nur zu später Stunde oder in „Nischensendern“ (s.u.)). Statt transnationalem und „herrschaftsfreiem“ Diskurs, der vom „Wahrhaftigkeitsanspruch“ bestimmt sein sollte (beides Jürgen Habermas), dominiert nationale und von Herrschaftsverhältnissen und Ideologien geprägte tendenziöse Medien-Berichterstattung, statt Transparenz Verschleierung, statt nüchterner „Entzauberung“ (Max Weber) des Finanzsektors und des kapitalistischen Wirtschaftssystems dessen Überhöhung, Mystifizierung und Sakralisierung. Damit wird das seit der Aufklärung zart aufkeimende Ideal einer „demokratisch“ zustandekommenden „öffentlichen Meinung“ wieder und weiter ad absurdum geführt, stattdessen von den Medienoligopolen oder -kartellen ein „Meinungsklima“ gegen einfach greifbarere Sündenböcke wie „faule Griechen“ oder Arbeitslose, Migranten oder „sozial Schwache“ erzeugt, anstatt die aufgebauten Götzenbilder von Arbeit, Kapital und Markt mit ihren Dogmen von Effizienz, „Produktivität“ und Wachstum umzustoßen oder zumindest anzuzweifeln; z.B. zu hinterfragen, wo etwa die gesamtgesellschaftliche Innovation oder „Produktivität“ des Finanzsektors bzw. seiner „Finanzprodukte“ liegt. Eine globale Gegenöffentlichkeit ist bisher nur im Internet und als Protestbewegung entstanden, aber nicht in der „Mitte der Gesellschaft“ bzw. beim „einfachen Mann“ präsent.



18.02.2013

„Aufstocker“, „Amazon“-Skandal, Mindestlohn-Debatte und das Prekariat: Ausbruch aus dem „stahlharten Gehäuse der Hörigkeit“ oder weiter Huldigung von Arbeitsfetisch und Wachstum? Zu Arbeits- und Wirtschaftsethik in der postindustriellen Gesellschaft zwischen Materialismus und Postmaterialismus

Die Ansätze mehr oder minder intensiv geführter Debatten um Sinn oder Unsinn einer 30-Stunden-Woche oder gar eines bedingungslosen Grundeinkommens stellen Grundsätze des Arbeitsfetisch (Robert Kurz) und damit von Materialismus und Wachstumslogik im postindustriellen Kapitalismus in Frage. Die politischen Weichenstellungen zur Einführung eines Mindestlohns tun dies nur sehr bedingt. 


 Demonstration für ein Bedingungsloses Grundeinkommen am 14. September 2013 in Berlin

Der Geist von Max Webers „protestantischer Arbeitsethik“ schwebt dieser Tage wieder als Folie aller gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Debatten mit, die um Arbeit oder „Faulheit“, um Wirtschafts-Wachstum oder „Décroissance“, um Materialismus oder Postmaterialismusgeführt werden. Tief in der „deutschen Seele“ (Buchtitel von Thea Dorn/Richard Wagner (2012)) ist der Drang nach stetiger Beschäftigung, nach rastlosem Arbeiten, nach „vorwärts“ strebender, produktiver Betriebsamkeit, seit Jahrhunderten verwurzelt; genauer gesagt seit der Reformation. Luthers Konzept des „Berufs“ änderte das Verständnis von Arbeit: Schnöde, rein der Existenzsicherung und der Selbstversorgung dienende Arbeit wurde zu einer höheren Tätigkeit stilisiert, zu der jeder Mensch „berufen“ sei. In den calvinistischen Territorien Europas und Nordamerikas (v.a. der späteren Vereinigten Staaten von Amerika) wurde das Streben nach Wohlstand durch rastlose Arbeit im Diesseits, in„innerweltlicher Askese“, zu einer auf der sogenannten Prädestinationslehre Calvins fußenden religiösen Suche nach Bestätigung göttlicher Gnade im Jenseits; Wohlstand wurde als Zeichen einer solchen Auserwähltheit angesehen. Diesen Zusammenhang legte in der Phase der Hochindustrialisierung des Deutschen Reiches und anderer europäischer Staaten, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Max Weber in seiner Schrift „Die protestantische Arbeitsethik und der Geist des Kapitalismus“ dar. Er sah in dieser Arbeitsethik die Basis für die kolossale wirtschaftliche Dynamik, die (West)-Europa (zuerst England) und Nordamerika in den Jahrhunderten nach der Reformation erfasste und die in der Industrialisierung mündete. Benjamin Franklin, quasi die Fleischwerdung der Weber-These, wurde im 18. Jahrhundert zum Helden der „konservativen“, rechtschaffenen frühen „Amerikaner“ aufgrund seiner unermüdlichen quasireligiösen Predigten zu Arbeitsamkeit, Fleiß und Disziplin.

Aber auch in der „linken“ politischen Theorie, etwa bei Karl Marx, wurde Arbeit bzw. Arbeitskraft zu einem hohen Gut, das der Proletarier für Lohn und Brot, ergo zur Sicherung seiner Existenz, zu Markte tragen muss(te). Die „Arbeiterklasse“, die in der frühindustriellen Gesellschaft stand, beinhaltete bereits in ihrer Bezeichnung die Arbeitskraft als ihre Essenz; die Arbeiter- oder „soziale Frage“ war das wohl dringendste Problem jener Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. An ihr und durch sie entzündeten sich die bis in die heutige Zeit überlebenden „Arbeitskämpfe“, mehr oder weniger hart geführte Aushandlungsprozesse zwischen Arbeitgebern (Besitzern der Produktionsmittel) und Arbeitnehmern (Proletariern) um Arbeitslöhne, Arbeitnehmerrechte, Arbeitsverträge und Arbeitszeiten. Der Luther'sche „Beruf“sbegriff bzw die Essenz der protestantischen Arbeitsethik, d.h. des Arbeitens als „Berufung“ oder wegen des Seelenheils, wurde durch die Industrialisierung und Proletarisierung breiter Schichten der Gesellschaft verdrängt zu Lasten einer wieder rein existenzsichernden Funktion von Arbeit. Was jedoch im 20. und 21. Jahrhundert bleibt von der Arbeits- und Akkumulationsethik ist der Wachstumsgedanke, Grundpfeiler des Kapitalismus, der ein doppeltes, binäres Ethos von Produktion und Konsumtion in jedem Wirtschaftssubjekt voraussetzt: Der Arbeiter soll am Tag asketisch, diszipliniert und gewissenhaft seiner Tätigkeit produzierend (oder dienstleistend) nachgehen, abends oder in seiner Freizeit aber möglichst enthemmt, hedonistisch und materialistisch konsumieren. Das Produzierende Selbst basiert dabei auf dem Konsumierenden Selbst (David Bosworth/Roland Benedikter), denn ohne den Konsum, die Nachfrage des „Hedonisten“ gäbe es keinen Bedarf für die Produktion bzw das Angebot der Güter oder Dienstleistungen des „Asketen“. Diesen Nexus bezeichnete Weber als ein „stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit“: jeder, der sich im Wirtschaftskreislauf befindet, sei in ihm gefangen. Ins Englische ist dieser Begriff sogar, noch etwas drastischer, als “iron cage“ (eiserner Käfig), übertragen worden.

Die Zeiten der Hochindustrialisierung sind (jedenfalls für die hier behandelten Regionen, Europa und Nordamerika) heute, im 21. Jahrhundert, vorbei, wir leben in der „nachindustriellen Gesellschaft“ (Daniel Bell); all unsre menschlichen (materiallen und physischen) Grundbedürfnisse sind in dieser Gesellschaft – vom wirtschaftlichen Standpunkt betrachtet - erfüllt oder zumindest relativ leicht erfüllbar. Der Wirtschaftsschwerpunkt hat sich bei uns von der Industrie bzw. Produktion auf Gewerbe bzw. Dienstleistungen verlagert; den klassischen Fabrikarbeiter aus der Zeit von Marx und Weber wird man heute kaum noch finden. Durch Maschinisierung und andere Rationalisierungs- und Effizienzsteigerungsprozesse sind viele anstrengende, zeitaufwändige und gesundheitsschädliche Arbeiten heute glücklicherweise nicht mehr der Teil der (westlichen, postindustriellen) Arbeitswelt (von anderen Weltteilen (leider) zu schweigen). Der Arbeitsaufwand, der heute nötig ist, um den gegenwärtigen Lebensstandard dieser unsrer postindustriellen Gesellschaft aufrechtzuerhalten, ist im Vergleich zu vor Jahrzehnten auf einen Bruchteil an Zeit zu beziffern. Doch die Wachstumslogik und der Arbeitsfetisch haben sich in den Köpfen nicht rationalisiert bzw nicht der Zeit angepasst: Hier sind die kulturellen Prägungen aus der Zeit von Franklin und der Industrialisierung immer noch dominant; es scheint den Wirtschaftskapitänen und auch vielen anderen nicht begreiflich (oder für manche auch aus ideologischen Gründen nicht wünschenswert), dass heute durch Reduzierung der Arbeitszeiten keine Gefahr für den gesamtgesellschaftlichen Lebensstandard droht. Der Teufel des „Minuswachstums“, also der „Decroissance“, wird immer noch an die Wand gemalt, der drohe, wenn Arbeitszeiten verkürzt (oder Löhne auf über Prekariatsniveau angehoben) würden. Selbst wenn dem so ist, wäre dies langfristig gesehen mit Blick auf Ressourcenverbrauch und Umweltbelastung durch unser momentanes Wirtschaften und Konsumieren ökologisch und auch mit Blick auf den sozialen Frieden uns eher nützlich als schädlich. Stattdessen werden die Vorteile von weniger Arbeit, d.h. mehr Freizeit, für die Psyche der Menschen und für das Niveau an Zufriedenheit, als „Faulheit“ oder „Selbstverwirklichungswahn“ abgetan. Nur Arbeit im „stahlharten Gehäuse“, d.h. offensichtlich produktive Arbeit für die Wirtschaft, ist in dieser Ideologie „gute Arbeit“; Arbeit, die vorrangig gesamtgesellschaftlich orientiert ist (z.B. Aktivismus, Wohltätigkeitsorganisationen), zur eigenen Selbstverwirklichung oder der anderer, z.B. durch ((akademische oder andere) (Menschen-)Bildung, Ausbildung oder Information, dient oder (bzw. und eventuell dadurch) das eigene Wohlbefinden befördert, nicht. Der Übergang von einer materialistischen zu einer postmaterialistischen Denkweise bzw Gesellschaft könnte ordnungspolitisch durch Einführung eines bedingunglosen Grundeinkommens oder zumindest einer Arbeitszeitverkürzung vorangetrieben und gestaltet werden.



03.02.2013

80 Jahre nach der „Machtergreifung“ und 70 Jahre nach Stalingrad - eine Bestandsaufnahme des populistischen Neo-Faschismus im Europa von heute. Die Krise Europas als Gefahr einer nationalistischen Renaissance oder als Chance zu deren Überwindung

Achtzig Jahre nach der "Machtergreifung" marschieren und agitieren wieder Faschisten, Nazis und Antisemiten in Mitteleuropa, am dreistesten in Ungarn. Europa muss in, trotz oder gerade wegen der Krise einer drohenden Renaissance von Nationalismen und Faschismen „im eigenen Haus“ entschlossen Einhalt gebieten.



Aufmarsch der SA am Abend des 30. Januar 1933 vor dem Reichskanzlerpalais in der Wilhelmstraße in Berlin


In den letzten Tagen jährten sich gleich mehrere Ereignisse, die mit der dunkelsten Zeit der deutschen Geschichte unmittelbar zu tun haben: Die „Machtergreifung“, die eher eine Machtübertragung des greisen deutschnationalen Reichspräsidenten Hindenburg an den Nationalsozialisten Adolf Hitler war, vor achtzig Jahren, am 30. Januar 1933, zum einen; zum zweiten, das Ende der Schlacht um Stalingrad, einer der blutigsten Schlachten des von eben jenen Nationalsozialisten angezettelten Zweiten Weltkrieges, vor siebzig Jahren. Zudem wurde am 27. Januar der Opfer des größten Völkermordes der Geschichte, der Shoah (dem "Holocaust"), gedacht; dieses Datum wurde in der BRD 1996 zum nationalen, von der UNO 2005 zum internationalen, Gedenktag an die Opfer des NS-Regimes bestimmt, weil am 27. Januar 1945, vor 68 Jahren, das KZ Auschwitz-Birkenau, das Konzentrationslager, dessen Name oft pars pro toto für die ganze Shoah verwendet wird („Nie wieder Auschwitz“), von der Roten Armee befreit wurde.

Achtzig Jahre nach der Machtergreifung haben die Staaten Europas, die vor drei bis fünf Generationen noch zwei blutige Kriege innerhalb von dreißig Jahren gegeneinander führten, die den Kontinent verwüsteten, eine Union erreicht, wie sie weltweit beispiellos ist; diese wird heute sogar von Deutschland angeführt. Sie haben eine Gemeinschaft europäischer Staaten begründet, die es ihren Bürgern erlaubt, über fast den gesamten Kontinent reisen zu können, ohne an den Grenzen kontrolliert zu werden. Sie haben durch die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes einen (relativen) wirtschaftlichen Wohlstand erreicht, wie er in keiner anderen Weltregion erreicht worden ist. Sicherlich profitiert Europa dabei auch von seinem kolonialen Erbe und von Ausbeutungsmechanismen gegenüber den „least developed countries“ der anderen Kontinente; an diesen Strukturen muss etwas geändert werden, um die langfristige Sicherheit Europas zu gewährleisten (z.B. Reduzierung der Agrarsubventionen, da diese für die Bauern in diesen Ländern (den "LDC's") einen sowieso schon unfairen Wettbewerb noch weiter nachteilhaft machen). Aber auch auf anderen Gebieten als der Wirtschaft muss sich Europa weiterentwickeln, wenn es von einer nur wirtschaftlichen zu einer tieferen, politischen Union werden will. Es muss wegkommen von nationalen Kirchturmpolitiken und – etwa durch eine gemeinsame europäischen Bildungs- und Kulturpolitik, die nationenübergreifende Lehrstoffe vermittelt – versuchen, eine europäische Identität und somit Solidarität zu schaffen, anstatt durch nationale Lehrpläne und Narrative Nationalismen zu befeuern oder zumindest das Denken in nationalen “black boxes“ zu belassen. Dies könnte oder müsste auch durch die Gründung gesamteuropäischer Medien erfolgen, die in den Hauptsprachen der Mitgliedsländer ein Sprachrohr für gemeinsame europäische Belange und Interessen sein sollten. Projekte wie ERASMUS, der europäische Studentenaustausch, müssten auch für andere Berufs- und Zielgruppen geschaffen (oder dahingehend erweitert) werden.

Was stattdessen in und aufgrund der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise leider passiert, ist in vielen Regionen Europas eine fatale Re-Nationalisierung, oft in Verbindung mit Ressentiments, die an die Anfänge des Faschismus und Nationalsozialismus nach der so schon zeitgenössisch bezeichneten „Urkatastrophe“, dem Ersten Weltkrieg, erinnern; die schon länger schwelende psychologische Identitätskrise der EU liegt darin begründet. Schauen wir uns jene Nationalismen, die man inzwischen in weiten Teilen Europas überwunden glaubte, im Folgenden an.

Die Briten sind, obwohl auf der westlichen Seite des Eisernen Vorhangs gelegen (aber eben auch in Insellage), nie auch nur in Ansätzen den europäischen Vertiefungsideen der Kontinentalmächte Deutschland und Frankreich gefolgt, die “
opt outs“ (Nichtbeitrittsklauseln), die die Basis des unsäglichen „Europas der zwei Geschwindigkeiten“ bilden, wurde von keinem Staat konsequenter genutzt. Auf den Beitritt zur EG 1973 folgten nie weitere Vertiefungsschritte, im Gegenteil, der „Britenrabatt“, der Nichtbeitritt zum Schengen-Abkommen und zur Währungsunion und last but not least die Weigerung, den Europäischen Grundrechtekatalog (als Teil des Lissabon-Vertrags) komplett zu übernehmen, sind alle mit nationaler Identität und “splendid isolation“ begründete Zeugnisse von Londons Halbherzigkeit gegenüber der EU. Die Haltung David Camerons, der die Briten in wenigen Jahren zu Ja oder Nein zur EU abstimmen lassen will (der mögliche Austritt Schottlands aus der Union mit England zuvor, 2014, steht auf einem ganz anderen Blatt), ist da nur die konsequente Fortführung dieses auf der Britischen Insel dominanten Euroskeptizismus; dieser ist vor allem ein Vorbehalt gegen die Aufgabe von mehr nationaler Souveränität. Die UKIP (United Kingdom Independence Party) verdankt der Anti-EU-Haltung ihre Existenz, allerdings ist sie, da die "Tories" selber größtenteils selbst die Europaskepsis vertreten, nur von marginaler Bedeutung. Andererseits wäre ein Austritt Großbritanniens ökonomischer Wahnsinn und würde die sowieso schon bis auf die Finanzbranche gebeutelte Wirtschaft der Insel in eine noch größere Misere stürzen.

Auf der östlichen Seite des ehemaligen Eisernen Vorhangs wird dieser nationalistische Skeptizismus noch durch alte Ressentiments gegen Deutschland (Tschechien) oder „die Juden“ (Ungarn) verstärkt. Die Tschechen haben vor einer Woche, als Nachfolger des euroskeptischen Vaclav Klaus, der, wie die Briten, das
“opt out“ bei Lissabon und dem Fiskalpakt wählte, Milos Zeman, einen Zündler, der seit Jahrzehnten überkommene nationale Nachkriegs-Ressentiments gegen die (1945/46 vertriebenen Sudeten-) Deutschen wieder hochkocht, zum Präsidenten gewählt. Zeman nannte die Sudetendeutschen „Hitlers fünfte Kolonne“ und seinen Mitbewerber, den Pro-Europäer Karel Schwarzenberg, in diffamierender Absicht einen „Sudetendeutschen“. Dieser, ein Berater des berühmten, 2011 verstorbenen ehemaligen Dissidenten und späteren Präsidenten Vaclav Havel, hatte die Benes-Dekrete, mit denen die Enteigung und Vertreibung der Deutschen (und der Ungarn) nach dem Krieg begründet wurde, kritisiert und den damaligen Premier Edvard Benes als einen nach heutigen Maßstäben in Den Haag zu verurteilenden Kriegsverbrecher genannt. Dafür wurde er vom späteren Wahlsieger Zeman mit einer erfolgreichen Schmutzkampagne überzogen. Prag wird mit der Wahl Zemans seine anti-europäische Haltung der letzten zehn Jahre fortführen, die seit dem Ende der Regierung Havels (1993-2003) zu konstatieren ist; auch Tschechien verweigerte sich entscheidenden Vertiefungsschritten (s.o.), und das trotz seiner geograpischen Lage mitten in Europa.