Bundespräsident Gaucks Anregungen zu einem „europäischen arte für alle“, d.h. zu gesamteuropäischen Medien, mögen als elitär und als Teil einer „von oben“ oktroyierten Europa-Doktrin verschrien werden. Zur Überwindung nationaler Ressentiments und zur Schaffung von Transparenz in der Eurokrise wären solche Medien dennoch notwendiger denn je, als Korrektiv nationaler Boulevardmedien der Murdochs (News Corporation) und Berlusconis (Mediaset). Eine transnationale bzw globale und an Transparenz interessierte (Gegen-) Öffentlichkeit kann nicht auf das Internet und damit die „digitale Dimension“ beschränkt bleiben.
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"No al berlusconismo, no alla Mafia" - Graffito auf Sardinien (2008) |
Zwei Ereignisse der vergangenen Tage zeigten in aller Deutlichkeit die Diskrepanz auf zwischen gesamteuropäischen Ideen und Theorien zu medialer Öffentlichkeit einerseits und der immer noch primär national geprägten politischen Praxis des (Medien-) Alltags andererseits: Die Europa-Rede des Staatsoberhaupts des größten Landes der EU, des deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck, am Freitag, und die Wahl im viertgrößten Land der Union, Italien, am Sonntag und Montag. Ein Anstoß Gaucks, dessen Rede ansonsten leider recht allgemein und unverbindlich gehalten war und aus einer Aneinanderreihung von allerlei Allgemeinplätzen zur Zukunftsperspektive Europas bestand, war, ein gesamteuropäisches „arte für alle“ zu schaffen. Dies sei zur Generierung einer gesamteuropäischen, grenzüberschreitenden europäischen Öffentlichkeit notwendig.
Wie national „Öffentlichkeiten“, „öffentliche Meinungen“ und Medien bisher sind, sieht man an den populistischen, mediengenerierten Stimmungen in einigen europäischen Ländern besonders deutlich: in Ungarn, wo die Medien rechtsextrem-nationalistische Perspektiven einnehmen und antieuropäische, antiliberale, antisemitische und antiziganistische Hetzpropraganda verbreiten müssen, wenn sie von den neofaschistisch-rechtsnationalistischen Machthabern nicht zensiert werden wollen (oder aus dem Wiener Exil weiter schreiben müssen wie der "Pester Lloyd"); in Großbritannien, wo die “splendid isolation“ der Insel hoch gehalten wird von anti-kontinentalen Boulevard-, aber auch „seriösen“ Medien, die die Meinungsbildungs-Hegemonie inne haben (diese sind größtenteils Teil von Rupert Murdochs globalen Medienkonsortium, stramm auf eine euroskeptische, wirtschaftsliberal-sozialdarwinistische Linie eingestellt); und natürlich in Italien, wo bis auf wenige Ausnahmen (z.B. „La Repubblica“) die Medien in der Hand eines Multimilliardärs, Silvio Berlusconi, konzentriert sind und quasi dessen Kontrolle unterliegen. Weitere Konzentrationen von Meinungsmacht in den Medienlandschaften anderer Staaten könnten angeführt werden (Stichworte Bertelsmann und Springer (BRD), Mediaprint (Österreich)); aus aktuellem Anlass sei hier aber besonders auf Italien verwiesen.
Hier hat die „Berlusconisierung“, d.h. Konzentration der Medien in einer Hand, dazu geführt, dass die Mittelmeer-Halbinsel, einstige Hochburg der politischen Linken in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, in den letzten etwa zwanzig Jahren, von Berlusconis rechtskonservativ-nationalistischem Bündnis („Popolo della Liberta“, vorher „Forza Italia“), das zeitweise auch rechtspopulistische oder neofaschistische Parteien beinhaltete oder aktuell beinhaltet („Lega Nord“, „Alleanza Nazionale“), zumindest medial, oft auch politisch, dominiert wird; seitdem nach den so genannten „Mani pulite“-Ermittlungen wegen Korruption, Amtsmissbrauch und illegaler Parteienfinanzierung („Tangentopoli“) das Parteiensystem 1993-95 quasi neu entstand (die konservative „Democrazia Cristiana“ sowie die sozialistische PSI gingen unter), regierte der Multimilliardär Berlusconi vier mal, insgesamt zehn Jahre. Für den aktuellen Urnengang, zu dem er überraschenderweise wieder antrat, hatten ihm die meisten Experten im In- und Ausland keinerlei Chancen mehr eingeräumt, das Kapitel Berlusconi schien abgeschlossen. Durch seine populistische Hetzpropaganda gegen Brüssel und Berlin, die er natürlich durch überproportional hohe Präsenz in seinen Medien auch ausführlich bei der Wählerschaft anbringen konnte, gelang es Berlusconi, dem ultimativen "comeback kid“ der italienischen Politik, nun doch nochmal ein Ergebnis zu erreichen, das Italien wieder einmal politisch lähmt: Das Links-Mitte-Bündnis unter Bersani ist selbst in einer Koalition mit der gemäßigten Mitte-Rechts-Partei des bisherigen Interimspremier Monti zu schwach, um allein regieren zu können; Berlusconis Partei kann jegliche Gesetzesinitiativen zu dringend notwendigen Reformen im Abgeordnetenhaus und erst recht im Senat blockieren. Das gute Wahlergebnis Berlusconis, eines verurteilten Betrügers, der es trotz dieses Imagekratzers schafft, große Teile der Bevölkerung zu seinen Gunsten zu manipulieren, ist ein formvollendetes Exempel medial gesteuerter politischer Beeinflussung der Wählerschaft; die Krise, die viele wirtschaftlich trifft und sie nach einem „starken Mann“ rufen lässt, tut ihr übriges dazu, dass der Rattenfänger erfolgreich ist.
Bisher schien Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, erst recht seit dem Ende des Kalten Krieges, im Vergleich zu Amerika der Teil der „entwickelten“ Welt, der eher die „gemäßigte Moderne“ (Richard Münch) verkörperte, die Extreme amerikanischer medialer “showmanship“, von Oberflächlichkeit und Propaganda (a la "Fox News"), zumindest in den Nachrichtensendungen, vermied; doch Berlusconis medialer modus operandi und die bedenklichen Entwicklungen der Boulevardisierung anderer nationalen Medienlandschaften in der Finanz-, Währungs- und Wirtschafts-Krise sind bedenkliche Anzeichen einer Amerikanisierung Europas in dieser Hinsicht. Anstelle von Transparenz und sachlicher Aufarbeitung findet man in diesen (leider Massen-)Medien emotionale Zuspitzung und Platituden, Hetzpropaganda („faule Pleite-Griechen“, „Neger wollen unser Geld“) und ein an Orwell'sches “newspeak“ erinnerndes Verschleierungsvokabular an „Unworten“ („die Märkte“, „Flexibilität am Arbeitsmarkt“, „marktkonforme Demokratie“ (Merkel), „nationales Interesse“). Sendungen oder Artikel, die im Sinne des Transparenzideals aufklärerisch wirken, findet man selten oder nur in Medien mit geringer Auflage (oder im Fernsehen und Radio nur zu später Stunde oder in „Nischensendern“ (s.u.)). Statt transnationalem und „herrschaftsfreiem“ Diskurs, der vom „Wahrhaftigkeitsanspruch“ bestimmt sein sollte (beides Jürgen Habermas), dominiert nationale und von Herrschaftsverhältnissen und Ideologien geprägte tendenziöse Medien-Berichterstattung, statt Transparenz Verschleierung, statt nüchterner „Entzauberung“ (Max Weber) des Finanzsektors und des kapitalistischen Wirtschaftssystems dessen Überhöhung, Mystifizierung und Sakralisierung. Damit wird das seit der Aufklärung zart aufkeimende Ideal einer „demokratisch“ zustandekommenden „öffentlichen Meinung“ wieder und weiter ad absurdum geführt, stattdessen von den Medienoligopolen oder -kartellen ein „Meinungsklima“ gegen einfach greifbarere Sündenböcke wie „faule Griechen“ oder Arbeitslose, Migranten oder „sozial Schwache“ erzeugt, anstatt die aufgebauten Götzenbilder von Arbeit, Kapital und Markt mit ihren Dogmen von Effizienz, „Produktivität“ und Wachstum umzustoßen oder zumindest anzuzweifeln; z.B. zu hinterfragen, wo etwa die gesamtgesellschaftliche Innovation oder „Produktivität“ des Finanzsektors bzw. seiner „Finanzprodukte“ liegt. Eine globale Gegenöffentlichkeit ist bisher nur im Internet und als Protestbewegung entstanden, aber nicht in der „Mitte der Gesellschaft“ bzw. beim „einfachen Mann“ präsent.