27.02.2013

Die Italien-Wahl als Spiegel nationaler Medienlandschaften und Ressentiments: Berlusconi oder Gauck – Die Hegemonie des populistischen Boulevards oder „europäisches arte für alle“? Zur Zukunftsperspektive eines gesamteuropäischen Mediums im Sinne des Transparenzideals

Bundespräsident Gaucks Anregungen zu einem „europäischen arte für alle“, d.h. zu gesamteuropäischen Medien, mögen als elitär und als Teil einer „von oben“ oktroyierten Europa-Doktrin verschrien werden. Zur Überwindung nationaler Ressentiments und zur Schaffung von Transparenz in der Eurokrise wären solche Medien dennoch notwendiger denn je, als Korrektiv nationaler Boulevardmedien der Murdochs (News Corporation) und Berlusconis (Mediaset). Eine transnationale bzw globale und an Transparenz interessierte (Gegen-) Öffentlichkeit kann nicht auf das Internet und damit die „digitale Dimension“ beschränkt bleiben.

"No al berlusconismo, no alla Mafia" - Graffito auf Sardinien (2008)



Zwei Ereignisse der vergangenen Tage zeigten in aller Deutlichkeit die Diskrepanz auf zwischen gesamteuropäischen Ideen und Theorien zu medialer Öffentlichkeit einerseits und der immer noch primär national geprägten politischen Praxis des (Medien-) Alltags andererseits: Die Europa-Rede des Staatsoberhaupts des größten Landes der EU, des deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck, am Freitag, und die Wahl im viertgrößten Land der Union, Italien, am Sonntag und Montag. Ein Anstoß Gaucks, dessen Rede ansonsten leider recht allgemein und unverbindlich gehalten war und aus einer Aneinanderreihung von allerlei Allgemeinplätzen zur Zukunftsperspektive Europas bestand, war, ein gesamteuropäisches „arte für alle“ zu schaffen. Dies sei zur Generierung einer gesamteuropäischen, grenzüberschreitenden europäischen Öffentlichkeit notwendig.

Wie national „Öffentlichkeiten“, „öffentliche Meinungen“ und Medien bisher sind, sieht man an den populistischen, mediengenerierten Stimmungen in einigen europäischen Ländern besonders deutlich: in Ungarn, wo die Medien rechtsextrem-nationalistische Perspektiven einnehmen und antieuropäische, antiliberale, antisemitische und antiziganistische Hetzpropraganda verbreiten müssen, wenn sie von den neofaschistisch-rechtsnationalistischen Machthabern nicht zensiert werden wollen (oder aus dem Wiener Exil weiter schreiben müssen wie der "Pester Lloyd"); in Großbritannien, wo die 
“splendid isolation“ der Insel hoch gehalten wird von anti-kontinentalen Boulevard-, aber auch „seriösen“ Medien, die die Meinungsbildungs-Hegemonie inne haben (diese sind größtenteils Teil von Rupert Murdochs globalen Medienkonsortium, stramm auf eine euroskeptische, wirtschaftsliberal-sozialdarwinistische Linie eingestellt); und natürlich in Italien, wo bis auf wenige Ausnahmen (z.B. „La Repubblica“) die Medien in der Hand eines Multimilliardärs, Silvio Berlusconi, konzentriert sind und quasi dessen Kontrolle unterliegen. Weitere Konzentrationen von Meinungsmacht in den Medienlandschaften anderer Staaten könnten angeführt werden (Stichworte Bertelsmann und Springer (BRD), Mediaprint (Österreich)); aus aktuellem Anlass sei hier aber besonders auf Italien verwiesen.

Hier hat die „Berlusconisierung“, d.h. Konzentration der Medien in einer Hand, dazu geführt, dass die Mittelmeer-Halbinsel, einstige Hochburg der politischen Linken in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, in den letzten etwa zwanzig Jahren, von Berlusconis rechtskonservativ-nationalistischem Bündnis („Popolo della Liberta“, vorher „Forza Italia“), das zeitweise auch rechtspopulistische oder neofaschistische Parteien beinhaltete oder aktuell beinhaltet („Lega Nord“, „Alleanza Nazionale“), zumindest medial, oft auch politisch, dominiert wird; seitdem nach den so genannten „Mani pulite“-Ermittlungen wegen Korruption, Amtsmissbrauch und illegaler Parteienfinanzierung („Tangentopoli“) das Parteiensystem 1993-95 quasi neu entstand (die konservative „Democrazia Cristiana“ sowie die sozialistische PSI gingen unter), regierte der Multimilliardär Berlusconi vier mal, insgesamt zehn Jahre. Für den aktuellen Urnengang, zu dem er überraschenderweise wieder antrat, hatten ihm die meisten Experten im In- und Ausland keinerlei Chancen mehr eingeräumt, das Kapitel Berlusconi schien abgeschlossen. Durch seine populistische Hetzpropaganda gegen Brüssel und Berlin, die er natürlich durch überproportional hohe Präsenz in seinen Medien auch ausführlich bei der Wählerschaft anbringen konnte, gelang es Berlusconi, dem ultimativen "comeback kid“ der italienischen Politik, nun doch nochmal ein Ergebnis zu erreichen, das Italien wieder einmal politisch lähmt: Das Links-Mitte-Bündnis unter Bersani ist selbst in einer Koalition mit der gemäßigten Mitte-Rechts-Partei des bisherigen Interimspremier Monti zu schwach, um allein regieren zu können; Berlusconis Partei kann jegliche Gesetzesinitiativen zu dringend notwendigen Reformen im Abgeordnetenhaus und erst recht im Senat blockieren. Das gute Wahlergebnis Berlusconis, eines verurteilten Betrügers, der es trotz dieses Imagekratzers schafft, große Teile der Bevölkerung zu seinen Gunsten zu manipulieren, ist ein formvollendetes Exempel medial gesteuerter politischer Beeinflussung der Wählerschaft; die Krise, die viele wirtschaftlich trifft und sie nach einem „starken Mann“ rufen lässt, tut ihr übriges dazu, dass der Rattenfänger erfolgreich ist.

Bisher schien Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, erst recht seit dem Ende des Kalten Krieges, im Vergleich zu Amerika der Teil der „entwickelten“ Welt, der eher die „gemäßigte Moderne“ (Richard Münch) verkörperte, die Extreme amerikanischer medialer “showmanship“, von Oberflächlichkeit und Propaganda (a la "Fox News"), zumindest in den Nachrichtensendungen, vermied; doch Berlusconis medialer 
modus operandi und die bedenklichen Entwicklungen der Boulevardisierung anderer nationalen Medienlandschaften in der Finanz-, Währungs- und Wirtschafts-Krise sind bedenkliche Anzeichen einer Amerikanisierung Europas in dieser Hinsicht. Anstelle von Transparenz und sachlicher Aufarbeitung findet man in diesen (leider Massen-)Medien emotionale Zuspitzung und Platituden, Hetzpropaganda („faule Pleite-Griechen“, „Neger wollen unser Geld“) und ein an Orwell'sches “newspeak“ erinnerndes Verschleierungsvokabular an „Unworten“ („die Märkte“, „Flexibilität am Arbeitsmarkt“, „marktkonforme Demokratie“ (Merkel), „nationales Interesse“). Sendungen oder Artikel, die im Sinne des Transparenzideals aufklärerisch wirken, findet man selten oder nur in Medien mit geringer Auflage (oder im Fernsehen und Radio nur zu später Stunde oder in „Nischensendern“ (s.u.)). Statt transnationalem und „herrschaftsfreiem“ Diskurs, der vom „Wahrhaftigkeitsanspruch“ bestimmt sein sollte (beides Jürgen Habermas), dominiert nationale und von Herrschaftsverhältnissen und Ideologien geprägte tendenziöse Medien-Berichterstattung, statt Transparenz Verschleierung, statt nüchterner „Entzauberung“ (Max Weber) des Finanzsektors und des kapitalistischen Wirtschaftssystems dessen Überhöhung, Mystifizierung und Sakralisierung. Damit wird das seit der Aufklärung zart aufkeimende Ideal einer „demokratisch“ zustandekommenden „öffentlichen Meinung“ wieder und weiter ad absurdum geführt, stattdessen von den Medienoligopolen oder -kartellen ein „Meinungsklima“ gegen einfach greifbarere Sündenböcke wie „faule Griechen“ oder Arbeitslose, Migranten oder „sozial Schwache“ erzeugt, anstatt die aufgebauten Götzenbilder von Arbeit, Kapital und Markt mit ihren Dogmen von Effizienz, „Produktivität“ und Wachstum umzustoßen oder zumindest anzuzweifeln; z.B. zu hinterfragen, wo etwa die gesamtgesellschaftliche Innovation oder „Produktivität“ des Finanzsektors bzw. seiner „Finanzprodukte“ liegt. Eine globale Gegenöffentlichkeit ist bisher nur im Internet und als Protestbewegung entstanden, aber nicht in der „Mitte der Gesellschaft“ bzw. beim „einfachen Mann“ präsent.


Gaucks Vision von einem „arte für alle“ erscheint angesichts dieser Tendenzen sehr elitär und weltfremd; wünschenswert wäre es jedoch trotz alledem, eine gemeinsame europäische Öffentlichkeit anzustoßen, ähnlich, wie sie – wie von Gauck ebenfalls angesprochen - ansatzweise schon auf dem Gebiet der (universitären) Bildung, durch Studentenaustauschprogramme wie „ERASMUS“ oder „Leonardo“, bereits be- und entsteht. Dass über die Kürzung bzw komplette Streichung dieser Programme im Zuge der derzeitigen EU-Haushaltsdebatte nachgedacht wurde, zeigt, dass leider dieser Gedanke einer transnationalen europäischen Öffentlichkeit zu Gunsten anderer (nationaler) Prioritäten nicht (mehr) von vielen Politikern gedacht wird; Gauck erscheint angesichts dessen eher wie ein einsamer Rufer in der Wüste oder wie einer, der „zum Arzt“ muss (Helmut Schmidt: „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen“). Aber eben jenes angesprochene 
arte, ein deutsch-französischer öffentlich-rechtlicher Gemeinschaftssender, nimmt - analog zu den genannten Bildungsprogrammen – auf medialer Ebene zumindest schon einmal eine Vorreiter- und Vorbildrolle ein. Ähnliches gilt auch für 3sat, das gemeinsam von Deutschland, der Schweiz und Österreich ko-finanziert und -produziert wird. Allerdings werden diese Sender im Gegensatz zu den rein nationalen öffentlich-rechtlichen und erst recht den Privatsendern von einer Minderheit der Bevölkerung regelmäßig gesehen; auch hier klaffen Anspruch und Massentauglichkeit auseinander.

Im Internet ist bereits eine virtuelle transnationale (Welt-)Öffentlichkeit entstanden, die das Transparenz-paradigma konsequent verwirklicht (idealerweise, im Sinne eines universalen „Weltinformationsethos“ (Andreas Greis)). Natürlich gibt es auch im Netz bedenkliche Tendenzen, etwa dass viele (extremistische oder andere) Inhalte nicht redigiert werden, emotionalisierte “shitstorms“ persönliche Angriffe ungekannten und unangemessenen Ausmaßes ermöglichen und Parallel-(Gegen)-Öffentlichkeiten, ja fast, schon -welten, atomisierter Internetnutzer entstehen. Angesichts dessen erscheint es aber dennoch, wenn man diesen Gedanken einer europäischen Identität doch konsequent weiterdenkt, dringend notwendig, auch die bisher national geprägte „traditionellen“ Medienlandschaften der „alten“ Medien (Radio, TV, Printmedien) zu europäisieren und zu entgrenzen; dies bedeutete ja nicht die Aufhebung oder Abschaffung der nationalen Medien und der nationalen Öffentlichkeiten bzw Medien, sondern eine Ergänzung, einen transnationalen Überbau zu etablieren; dieser könnte hoffentlich als ein notwendiges Korrektiv der nationalen (Boulevard- und anderer) Medien und deren begrenzter Sichtweise fungieren. Massimo D'Azeglio sagte 1861 nach der Einigung und Gründung Italiens: „Wir haben Italien geschaffen, nun müssen wir Italiener schaffen.“ Aus aktuellem Anlass könnte man in Abwandlung davon sagen, dass man, nachdem man Europa institutionell und politisch geschaffen hat, mit einer gezielten transnationalen Medienpolitik auch Europäer schaffen könnte. Dies zu bewerkstelligen ist natürlich angesichts der Vielsprachigkeit und Vielschichtigkeit der europäischen Bevölkerungen eine hehre Aufgabe, die aber als Herausforderung und Chance für die Zukunft der europäischen Integration begriffen werden sollte. Leider scheinen aber weite Teile der Bevölkerung ebenso wie viele in den politischen und wirtschaftlichen Eliten (zu) stark in egoistisch-nationalen und (finanz-) kapitalistisch-wirtschaftlichen Ideologien oder Denkmustern verhaftet, um diese anzugehen und wahrzunehmen. 
Solange das jetzige System nicht zu Lasten seiner Arbeits-, Geld- und Wachstumsfetische (siehe hierzu auch den Artikel "„Aufstocker“, „Amazon“-Skandal, Mindestlohn-Debatte und das Prekariat: Ausbruch aus dem „stahlharten Gehäuse der Hörigkeit“ oder weiter Huldigung von Arbeitsfetisch und Wachstum? Zu Arbeits- und Wirtschaftsethik in der postindustriellen Gesellschaft zwischen Materialismus und Postmaterialismus" vom 18-02-13) reformiert oder revolutioniert wird, wird der „einfache Mann von der Straße“ von einem solchen Programm aus Zeitmangel, Desillusionierung, Politikverdrossenheit oder schlicht Desinteresse, nicht erreicht werden können.

Literatur:

Greis, Andreas, Identität, Authentizität und Verantwortung, München/Tübingen 2001.

Habermas, Jürgen, Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt am Main 1983.

Habermas, Jürgen, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied 1962.
Münch, Richard, Die Konstruktion der europäischen Gesellschaft. Zur Dialektik von transnationaler Integration und nationaler Desintegration'. Campus, Frankfurt 2008.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen