06.03.2013

„(K)ein einig Volk von Brüdern (und Schwestern)“? - zu „vox populi“ und „Abzockerinitiative“. (Direkte) Demokratie zwischen populistischer Anfälligkeit und echter Chance zur Bürger-Emanzipation

Eine Analyse der Ergebnisse der Wahl in Italien sowie der jüngsten Volksabstimmung in der Schweiz spiegelt eine grenzüberschreitend wachsende Distanz zwischen (Stimm-) Bürgern einerseits und Polit- und Wirtschaftseliten andererseits wider. Während aber Italien erneut gespalten und konzeptlos dasteht, gehen die Schweizer in einem (kleinen) Schritt den Weg in eine sozial befriedete(re) Zukunft. Weitere direktdemokratische Impulse könnten aus der Eidgenossenschaft bald folgen.


Eindeutiges Ergebnis: Schweizweit stimmten alle Kantone für die "Abzockerinitiative" (Spitzenreiter war Jura mit 77,1%, Schlusslicht Obwalden mit 56,1% Ja-Stimmen) 


Vor zwei Wochen wählte Italien; viele in Europa, vor allem nördlich des Brenners, waren (zu Recht oder Unrecht) belustigt bis entsetzt über das Ergebnis, das einen Populisten von neoliberal-rechts, Berlusconi, zurück, und einen Systemoppositionellen von stramm links, Grillo, neu in das politische System Italiens brachte. Sogar von „höchster“ deutscher (Kanzlerkandidaten-) Stelle wurde das Resultat kritisiert; Peer Steinbrück verstieg sich zu der Aussage, „zwei Clowns“ hätten in Italien die Wahl gewonnen. Dem kann man subjektiv und im ersten Moment aus deutscher oder nordeuropäischer Sicht zustimmen: ein Wahlvolk scheint nicht besonders reif, das (natürlich manipuliert von einem Medienimperium) jemanden trotz zahlreicher Skandale mehrfach in das politische Geschehen zurück wählt, nur weil er Medienprofi und Populist mit einfachen Parolen ist.


Berlusconis linker Konkurrent, Pier Luigi Bersani, konnte aufgrund seiner eher medienscheuen, intellektuellen Art in einer solchen Situation kein Kapital aus dem von Berlusconi angerichteten Misere schlagen; von Franz Josef Strauß stammt das (direkt-) demokratiekritische Zitat: „vox populi, vox Rindvieh“. Dabei ist jedoch natürlich objektiv und bei genauerer Analyse immer auch die Situation der jeweiligen Bevölkerungen mit zu beachten: Italien befindet sich in einer tiefen Wirtschaftskrise, die die meisten Leute zu Recht dem politischen System bzw der Verflechtung zwischen Mafia, Politik und (Schatten-)Wirtschaft ankreiden; daher stimmten die Aufgeklärt-Kritischeren und/oder Ärmeren, prekär Lebenden unter den Politikverdrossenen für Grillos „Cinque Stelle“-Bewegung, die Nationalisten und/oder Etablierteren, Reicheren unter ihnen für Berlusconi.


Während in Rom auf unabsehbare Zeit weiter um eine Regierungsbildung gerungen werden wird, stellt sich im nördlichen Nachbarland, der reichen Schweiz, die Situation wirtschaftlich wie politisch anders dar. Wieder einmal ist das schweizerische Stimmvolk an die Urnen gerufen worden, diesmal zur Abstimmung über drei Initiativen, von denen die sogenannte „Initiative gegen die Abzockerei“ die außerhalb der Eidgenossenschaft am breitesten verfolgte war. Im Titel ist sie in typisch schweizerdeutscher Klarheit (aber auch Einfachheit) als „Abzockerei“ formuliert, was im restlichen deutschen Sprachraum wohl nicht so formuliert worden wäre. Anlass sind die selbst für schweizerische Verhältnisse horrenden Managergehälter bzw Abfindungen; die Spitze des Eisbergs war vor wenigen Wochen das Bekanntwerden einer Abfindung von 72 Millionen Franken, die der bisherige Verwaltungsratspräsident des Pharmakonzerns Novartis nach seinem Ausscheiden dieses Jahr für die nächsten sechs Jahre erhalten sollte (12 Millionen Franken jährlich). Dies spielte den Befürwortern der bereits 2005 von Thomas Minder, einem Unternehmer aus Schaffhausen, lancierten Initiative im Kampagnen-Endspurt vor dem vergangenen Sonntag in die Karten. Das Ergebnis war historisch in seiner unerwarteten Eindeutigkeit, bedenkt man, dass sich der mächtige Wirtschaftsverband „Economiesuisse“ mit einer 8 Millionen Franken teuren Angstkampagne („drohende Abwanderung von Unternehmen“) gegen die Initiative positioniert hatte (die Ja-Seite selbst hatte nur 200 000 Franken zur Verfügung). Wie in dem auf dem schweizerischen Nationalheldenepos Wilhelm Tell basierenden Schiller'schen Drama, in der sich die ersten Eidgenossen in der heutigen Zentralschweiz gegen den übermächtigen Landvogt stellen, zeigte sich das Schweizer Stimmvolk als ein „einig Volk von Brüdern“: Ausnahmslos alle Kantone zwischen Schaffhausen und Lugano, zwischen St. Gallen und Genf, stimmten für die Initiative, insgesamt schweizweit mit fast 70%. Dabei wurde auch der kulturelle und sprachliche „Röstigraben“ überwunden, der sich sonst üblicherweise zwischen der konservativeren deutschsprachigen Zentral- und Ostschweiz und der eher liberalen Romandie, d.h. der Westschweiz (wobei das italianophone Tessin meist wie die Deutschschweizern abstimmt) bei Volksabstimmungen in der Schweiz auftut.


So revolutionär freilich ist das Ziel der Initiative nicht, sie rüttelt nicht an den Grundfesten des schweizerischen (und globalen) Wirtschaftssystems: Es geht darum, Gehaltsexzesse nach oben zu verhindern, indem börsennotierte Unternehmen die Managergehälter jährlich von den Aktionären absegnen lassen müssen; zudem sollen Abgangsentschädigungen (Abfindungen) nicht mehr zulässig sein. Es ist ein unerwartet klares Votum gegen die in keinem Verhältnis zu den erbrachten betriebswirtschaftlichen, geschweige denn volkswirtschaftlichen „Leistungen“ stehenden Summen im (meist zweistelligen) Millionenbereich, die CEO's oder auch andere Manager, nicht nur als Gehalt, sondern gerade auch nach dem Ausscheiden aus diesen Unternehmen, also nicht mehr für direkte Anstellung und Gegenleistung, sondern zum Abschied als „goldenen Handschlag“ oder „Absprung“ als „goldenen Fallschirm“ kassieren.




Die „Abzockerinitiative“ wird also wohl einen Kontrollmechanismus gegen Gehaltsexzesse in den Führungsetagen etablieren und könnte und sollte als Vorbild für ähnliche Mechanismen in anderen Staaten oder auf supranationaler, europäischer Ebene dienen; dies sind kleine, reformerische, nicht große, revolutionäre Impulse, die aber hilfreich dabei sind, einer weiteren Verschlechterung des sozialen Friedens entgegenzuwirken. Die Situation der einkommensschwächeren bis prekär lebenden Bevölkerungsschichten (je nach Land haben die unteren 30-50% der Einkommenspyramide nur ca 1-5% des Gesamtvermögens zur Verfügung, zum Vergleich die oberen 10% weit über 50%) ändert sich dadurch wenig. Aber auch hier könnte die Schweiz mit einer bereits in der Unterschriftenphase sich befindlichen „Volksinitiative für ein bedingungslosen Grundeinkommen“ (von 2500 Franken jährlich) beispielhaft vorangehen; sie begann vor einem Jahr, im März 2012, aktuell haben bereits etwa 73 000 Bürger unterschrieben, so dass das Ziel, die benötigten 120 000 Unterschriften bis Oktober 2013 zu erreichen, realistisch erscheint. Dies wäre ein bedeutsamerer und revolutionärer Schritt zu einer (zumindest sozio-ökonomisch) gerechteren und sozial befriedeten Gesellschaft (siehe hierzu auch den Artikel "Aufstocker" vom 18.02.); ob die von der calvinistisch-protestantischen Arbeitsethik wie kaum eine andere Kultur geprägte Schweiz für ein solches Grundeinkommen stimmen würde, ist mehr als fraglich. Die Debatte über das BGE könnte dennoch allein schon dadurch, dass sich das Volk in der Schweiz damit befassen und darüber abstimmen würde, ihr bisheriges Nischenpublikum erweitern und würde in der Folge vielleicht ähnlich breit in der Öffentlichkeit geführt werden wie die über exzessive Managergehälter. Ein wichtiger Impuls wäre eine Abstimmung über das BGE in der Schweiz, unabhängig vom Ausgang eines solchen Plebiszits, auf jeden Fall.
Links:
Initiative Bedingungloses Grundeinkommen

"Die Schweiz und das Grundeinkommen" (Artikel im "Freitag" online, 04.03.13)


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