17.10.2017

Mehr echte (Sozial-) Demokratie wagen! Auswege aus der sozialen Krise Europas

Die Antwort auf die Wahlerfolge von Rechtspopulisten (zuletzt in den Niederlanden, Deutschland und Österreich) und auf den Rückgriff auf separatistische oder nationalistische Bewegungen in ganz Europa (z.B. in Schottland oder Katalonien) ist nicht mehr Zentralisierung, sondern weniger, und nicht weniger echte (Sozial-) Demokratie, sondern mehr.


Das dauerhafte Fehlen sozialdemokratischer, geschweige denn noch weitreichenderer, solidarischer europäischer und nationaler Politik und das Zunehmen “sozialer Kälte” seit (mindestens) den letzten beiden Jahrzehnten (langfristiger seit 1989 oder sogar 1982) wird von den urbanen, (bildungs-)bürgerlichen Mittelschichten in den Speckgürteln oder Innenstädten westlicher Großstädte objektiv wohl genauso wahrgenommen wie von denjenigen ärmerer ländlicher oder sonstiger peripherer Regionen. Doch letztere sind subjektiv - in ihrer eigenen Lebenswelt - ungleich mehr davon betroffen oder gar existentiell bedroht (oder empfinden dies perzeptiv zumindest so). Dagegen ist (zumindest in mittel- und nordeuropäischen Regionen) der Großteil der Menschen in der ersten Gruppe (urbane oder suburbane Mittelschichten) bisher noch nicht im gleichen Ausmaß von den Auswirkungen des globalisierten liberalen Fundamentalkapitalismus in Form von “Flexibilisierung”, Prekarisierung, Sozialabbau und (zukünftiger) Massenarbeitslosigkeit betroffen.

Wenn nicht durch eine, nennen wir es “neue sozialdemokratische”, solidarische Politik entgegengesteuert wird, werden diese Entwicklungen auch die gerade heranwachsende(n) Generation(en) (“Millennials” und folgende) in den nächsten Jahrzehnten in den bisher reicheren Zentren Europas erwarten, und die Peripherien werden – bis auf ein paar reiche Mitglieder der Oberschichten - endgültig in die armen Verhältnisse der Prä-EG/-EU-Jahrzehnte zurückfallen (1960er bis 1980er Jahre)
. Eine solche Politik ist in der der derzeitigen EU aber nicht gegeben; so sind in vielen anderen Bereichen Harmonisierungen erfolgt (meistens zugunsten der großen Konzerne), aber es ist z.B. bis heute dem einzelnen EU-Bürger nicht möglich, gegen fehlende oder mangelhafte Sozialstandards seines Staates (oder erst recht nicht seines Arbeitgebers) auf europäischer Ebene zu klagen.

Die Lösung dieser bestehenden Diskrepanz zwischen Zentren und Peripherien liegt - bei einer natürlich notwendigen Distanzierung von neofaschistischen oder neonazistischen Positionen - nicht in einer Verächtlichmachung der in den Peripherien durch die Wahl von entsprechenden Parteien “geäußerten” (realen oder perzeptiven) Nöte, so wie es viele Angehörige des städtischen (z.B. westdeutschen) Bürgertums aus ihrer (noch) komfortablen Position heraus tun. Es sollte in diesem Klientel und bei deren politischen Vertretern vielmehr darüber nachgedacht werden, wie man den propagierten verfänglichen “einfachen Lösungen” der Rechten, die durch die immer weiter auseinander gehende Schere der Lebenswelten zwischen Zentrum und Peripherie befeuert werden, konkret entgegenwirken kann – z.B. durch Investitionen in, nicht noch mehr Austerität an der Peripherie (nicht nur in den armen Ländern Europas, sondern auch in den Peripherien der reicheren (d.h. den strukturschwachen Gegenden in der BRD) – für Länder wie die BRD oder Österreich wäre dies bei der derzeitigen Haushaltslage nicht einmal ein fiskalischer Kraftakt; stattdessen dominieren national und in Europa jedoch Sparfetischismen wie die “schwarze Null” (die “Schuldenbremse” in der BRD), die von manchen als zu Recht als zukunftspolitischer “Wahnsinn” oder "Schwachsinn" bezeichnet wird.

Natürlich sind die Bevölkerungen an der Peripherie, die diese national(istisch)en Rückgriffe besonders zahlreich als “Lösung” aufgreifen, oft “nützliche Idioten” von rechtspopulistischen Politikern, die genauso wenig an einer sozialdemokratischen, geschweige denn solidarischen Politik interessiert sind wie die große Mehrheit der anderen Parteien und der Wirtschaft; dies ist aber weniger ein “Versagen des Bildungssystems” (wobei es da natürlich auch Ansätze gäbe), sondern dafür ist das Versagen der linken und grünen Parteien hauptursächlich, die sich seit spätestens Ende der 1990er Jahre an bürgerlich-großkapitalistische Interessen angebiedert oder diese sogar in ihrer eigenen Regierungsverantwortung offen vertreten und umgesetzt haben, und von denen sich deshalb die peripheren Bevölkerungen nicht mehr vertreten fühlen.



Es sollte daher nicht nur breiter diskutiert werden, ob es nicht die “von oben” beförderten Machtkonzentrations-, Zentralisierungs- bzw. Entgrenzungsentwicklungen auf europäischer und globaler Ebene sind, die für die (nicht immer nur per se reaktionär-regressiven) Rückgriffe auf nationalistische Positionen “von unten” ursächlich sind (dies ist ja in letzter Zeit schon so oft richtigerweise prognostiziert worden), sondern es sollte auch ernsthaft über Alternativen zu den bisherigen Strukturen nachgedacht werden, d.h. der europäischen Strukturen, die diese Entgrenzung, Machtkonzentration und Zentralisierung befördern.


Alternativen jenseits der EU in ihrem momentanen Zustand, einer EU, die paradoxerweise den scheidenden Finanzminister, Wolfgang Schäuble, als “großen Europäer” feiert. Schäuble war nicht nur auf nationaler Ebene in Deutschland ein Befürworter (oder gar der “Erfinder”) der “schwarzen Null” (siehe oben, d.h. keine neuen Schulden und neue Sparpolitik statt Investitionen), er war auch die treibende Kraft der von einer undemokratischen “Troika” aus Kommission, EZB und IWF exekutierten Austeritätspolitik, die am stärksten in Griechenland, aber teilweise auch in anderen europäischen “Krisenstaaten” kausal war für eine sozial-ökonomische, wenn nicht sogar humanitäre Krise an Europas Peripherie (in Südeuropa noch verschärft durch die Flüchtlingsströme, die immer zuerst in diesen Ländern ankamen und -kommen). Kommuniziert wurde dies als “Rettung” dieser Eurozonen-Staaten, tatsächlich aber profitierten davon die Staaten, Firmen und Banken des reichen Zentrums (v.a. Deutschlands).

 Auch in Spanien hat die Austeritäts-Politik der frühen 2010er Jahre zu einer Krise geführt, die vor allem die jüngere Bevölkerung am stärksten betrifft, und zum Aufstieg einer Protestbewegung (“Indignados”), die dann als Partei (“Podemos”) vor allem in Katalonien eine Alternative zur Austerität propagiert und diese in Barcelona teilweise umgesetzt hat; diese alternativen Wirtschaftskonzepte, die sich gegen die Austerität Madrids und Brüssels wenden, sind neben den historischen Altlasten aus der nicht aufgearbeiteten Bürgerkriegs- und faschistisch-franquistischen Zeit (1936-39 bzw.1939 bis 1978) der Hauptgrund für die Separationsbestrebungen Kataloniens.

In Großbritannien war es nicht europäische Austerität, als vielmehr die schon jahrzehntelange nationale Hegemonie arbeiterfeindlicher konservativer Sparpolitik seit Margaret Thatcher in den 1980er Jahren, die die traditionellen Arbeiterregionen Nordenglands von den reichen Home Counties des Südens entfremdete; und in Schottland führte zudem das Versagen der “New Labour”-Regierungen (Tony Blair, Gordon Brown), die die Thatcher-Politik bis in die 2000er fortführten, zu einem Erstarken des bis dahin gezähmten schottischen Nationalimus, der primär von einer sozialdemokratisch-grün geprägten Partei, der SNP (Scottish National Party) getragen wird. Ein 2014 von der SNP initiiertes Referendum zum Verbleib Schottlands im Vereinigten Königreich ging nur knapp (45%:55%) gegen die Unabhängigkeit aus (ein erneutes strebt Edinburgh bis 2019 an, wegen der mehrheitlichen Brexit-Ablehnung Schottlands (62% stimmten dort für “Remain”)). Genauso wie im Moment akut die “katalanische Frage” in Spanien kurzfristig, so wird die “schottische” (und nordirische) Frage mittelfristig im Vereinigten Königreich geklärt werden müssen. In Spanien wird dies nicht auf die Weise funktionieren, wie es Madrid und Brüssel bisher getan haben, nämlich durch Polizeigewalt, Ignorieren bzw. Totalverweigerung jeglichen Dialogs durch die PP und Mariano Rajoy, und auf den Inseln nicht durch einen “hard brexit”, wie ihn die meisten “Tories” befürworten, sondern durch eine Berücksichtigung schottischer Interessen (z.B. in der Sozial- und Umweltpolitik) – die “irische” Frage und ihre Zukunft nach dem “Brexit” lassen wir aufgrund der Komplexität der Gemengelage an dieser Stelle mal außer Acht.

Wie könnten Reformen aussehen? Jedenfalls nicht so wie Emmanuel Macron, der neue neoliberale Präsident in Paris, sich diese vorstellt, nämlich eine weitere Zentralisierung der Macht der EU bei unveränderten Finanz-, Wirtschafts- und Machtstrukturen innerhalb der Union.

Es bräuchte - ob mit Katalonien innerhalb oder außerhalb Spaniens, ob mit oder ohne einem unabhängigen Schottland - ein echtes “Europa der Regionen” (mehr als nur die bereits existente Zusammenarbeit von Grenzregionen von Nationalstaaten), als anti-hegemoniales Gegengewicht, um die ungesunden, sich durch die aktuelle Politik sich noch verstärkenden Ungleichgewichte (Dominanz der Zentren, bzw. der starken Länder, v.a. Deutschlands, und Fortführung der Austeritätspolitik) auszugleichen – d.h. eine stärkere Zusammenarbeit der Regionen und/oder der kleineren Länder, jenseits der (oder zusätzlich zu den) großen Nationalstaaten. So könnte man z.B. lokale und regionale Sozial- und Wirtschaftsmodelle und auch Währungen zulassen und gemeinsam einen Plan für Investitionen in die jeweiligen Regionen entwickeln, die - mehr als dies ein zentralistisches Europa bisher (z.B. bei der Privatisierung griechischer Staatsbetriebe) zugunsten multinationaler (oder großer nationaler (deutscher u.a.)) Großkonzerne und Banken tut - jeweils auf die Gegebenheiten und Traditionen der jeweiligen Regionen Rücksicht nehmen, regionale Strukturen stärken und Ungleichgewichte möglichst abmildern könnten.

Zum zweiten könnte es EU-weit angepasste soziale Mindeststandards, und wenn nicht, dann zumindest ein einklagbares Rechte jedes EU-Bürgers auf solche sozialen Mindeststandards geben; EU-Bürger sollten gegen Lohndumping, d.h. sittenwidrige Bezahlung bzw. prekäre Arbeitsverhältnisse und für eine ausreichende Gesundheitsversorgung und existenzsichernde Sozialleistungen klagen können. So könnte die generelle Entwicklung des “race to the bottom” durch die Einführung verbindlicher Mindestlöhne und z.B. darüber hinaus auch einer gesamteuropäischen Gesundheitsversorgung konterkariert werden.

Dies wären erste Schritt zu einem sozialeren Europa, das dem Europa der “sozialen Kälte” entgegentritt und den rechtsnationalen Rückgriffen den Wind aus den Segeln nimmt. Solange aber Schritte in diese Richtung bzw. jegliche Kritik an oder Alternative zur jetzigen Struktur und Politik der EU pauschal als regressiv und anti-europäisch bezeichnet werden, wird dieser Wind weiter blasen. Wenn er noch stärker wird, könnte es sein, dass nicht nur die Fundamente Europas erschüttert werden (wie durch Brexit), sondern das durch ihn (in weiteren dramatischen Entwicklungen) das Dach des Hauses Europa abgedeckt wird. 


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